04.02.2021 von Redaktion

"Selfish Brain": Übergewicht entsteht im Kopf

Das Gehirn wetteifert mit den anderen Organen um die Energieversorgung. Bei chronischem Stress etwa, kann es jedoch zu einer mangelnden Lieferung kommen. Dann fordert das Gehirn weiter Energie an und verleitet trotz gefüllten Magens dazu, mehr zu essen. Dies kann die Entwicklung von Übergewicht und Adipositas begünstigen.

Obwohl unser Gehirn nur rund 2 kg wiegt, verbraucht es etwa 60 % des Blutzuckers, in belastenden Situationen sogar bis zu 90 %. Im Durchschnitt benötigt es etwa 130 g Glukose (Traubenzucker) pro Tag, in erster Linie zur Informationsverarbeitung. Um diesen Bedarf zu decken, reagiert das Gehirn „selbstsüchtig“: Es reguliert die Energieversorgung des Körpers so, dass seine Bedürfnisse vorrangig gedeckt werden. Das zeigt sich insbesondere bei Menschen, die an Nahrungsmangel leiden, aber auch bei jenen, die stark auf chronischen Stress reagieren, wie Job-Unsicherheit, Armut oder Probleme in der Partnerschaft.

Das Gehirn ist egoistisch

Bei Nahrungsmangel kommt es innerhalb des Organismus zu einer drastischen Umverteilung der Energie. Dabei beansprucht unser Gehirn als wichtigstes Kontrollorgan und größter Energieverbraucher den größten Energieanteil, nämlich fast 20 % des gesamten Energieverbrauchs. Die Konsequenz: alle Organe (z. B. Herz, Niere oder Leber) nehmen an Masse ab, nur das Gehirn nicht. Bei Stressepisoden steht das Gehirn mit den anderen Organen ebenso im Wettbewerb. Da Menschen unter Stress dauerhaft angespannt sind, benötigt das Gehirn deutlich mehr Energie, um die Reize zu verarbeiten, als in stressfreien Phasen. Auch hier reagiert das Gehirn egoistisch (engl. selfish).

Nervensystem koordiniert Energiekette

Die „Selfish-Brain-Theorie“ wurde im Jahr 1998 vom Lübecker Adipositas-Spezialist und Diabetologen Achim Peters entwickelt und zwischenzeitlich in zahlreichen Studien belegt.
Im gesunden Organismus kann das Gehirn jederzeit Glukose beim Körper „bestellen“. Der so genannte „Brain-Pull“ ist dabei kein Schalter, der einfach umgelegt wird, sondern ein hochkomplexes System, bestehend aus 200 Mrd. Gehirnzellen, die sich von der Hirnrinde über den Hirnstamm erstrecken. Von dort aus gehen die Signale zu den Organen, also zu Lunge, Bauchspeicheldrüse, Herz oder Muskeln. Essen wir zu wenig, schlafen wir nicht ausreichend oder stehen wir unter Stress, sinkt der Glukosespiegel im Gehirn. Daraufhin aktiviert es sofort sein Stresssystem und fordert Zucker an.

Glukose wird bei Stress aktiv umgeleitet

Dabei schütten die Zellen des sympathischen Nervensystems die Stresshormone Adrenalin und Kortisol aus. Infolgedessen stoppen die β-Zellen in der Bauchspeicheldrüse die Insulinproduktion. Dadurch bleibt mehr Glukose im Blutkreislauf, die über die Blut-Hirn-Schranke in das Gehirn gelangt. Sobald das Gehirn wieder mit genug Energie versorgt ist, fährt es den Brain-Pull zurück. Sinkt der Glukosespiegel erneut, werden wieder Stresshormone frei, und der Kreislauf beginnt von vorne.

Wissenswert

Das sympathische System (Sympathikus) ist Teil des vegetativen Nervensystems im Körper. Es wird aktiviert, um uns in Stresssituationen aufmerksam und leistungsfähiger zu machen. Die Signalstoffe der Nervenfasern hemmen die Glukose-Rezeptoren auf den Zelloberflächen der Organe, die Glukosetransporter-4 (GLUT-4), und schleusen die Glukose über die Blut-Hirn-Schranke durch die insulin-unabhängigen GLUT-1 in das Gehirn.

Adipositas und Diabetes: Stau in der Energielieferkette

Bei Menschen mit hohem Körpergewicht liegt ein schwacher Brain-Pull vor: das Gehirn „zieht“ zu wenig Zucker aus dem Körper. In dieser Situation fließt kaum Glukose zum Gehirn, stattdessen „häuft“ sie sich in Muskel- und Fettgewebe an. Um den Mangel auszugleichen, signalisiert das Gehirn, mehr zu essen. So beginnt der Teufelskreis. Denn obwohl durch die Nahrungsaufnahme genug neue Energie verfügbar ist, gelangt wieder zu wenig Glukose zum Gehirn, während sich die Fettspeicher weiter auffüllen. Dadurch wird mehr Energie aufgenommen als nötig. Sind die Speicher voll, reichert sich die Glukose im Blut an, was auf Dauer zu Diabetes Typ-2 führen kann.

Ursachen körperlicher und psychischer Natur

Solang das Stresssystem funktioniert, klappt auch der Brain-Pull. Ist jedoch die Hirnstruktur geschädigt, liegen Tumore oder Verletzungen am Gehirn oder Gen-Defekte vor, werden die Informationen nicht mehr weiter gegeben. Beeinträchtigungen des Stresssystems aufgrund körperlicher Defekte sind vergleichsweise selten. Häufiger handelt es sich um psychosoziale Einflüsse wie chronischer Stress, Traumatisierung oder Depressionen, die die Signale dauerhaft fehlprogrammieren. Diese gehen oft mit konditioniertem Essverhalten (Frust-Essen) einher. Ebenso können Drogen, Alkohol, Viren und Pestizide sowie Medikamente wie Antidepressiva Fehlsignale verursachen.

Messbare Merkmale gesucht

Derzeit sind Forscher immer noch auf der Suche nach Biomarkern, also messbaren biologischen Merkmalen im Körper, die auf einen krankhaften Prozess hindeuten können. Ein Hinweis für einen schwachen Brain-Pull könnte ein niedriger Plasma-Laktat-Wert oder ein hoher Nüchtern-Insulinwert von > 145 pmol/l bei normalem Blutzuckerspiegel sein. Die Datenlage hierzu ist allerdings noch nicht ausreichend.

Wissenswert

Der Normalbereich von Insulin im Blutserum nach zwölfstündigem Fasten liegt beim Erwachsenen zwischen 20-120 pmol/l.

Verhaltenstherapie kann helfen

Bei psychischen Ursachen oder schlechten Essmustern zeigen Verhaltens- und Gesprächstherapie gute Erfolge. Die Betroffenen lernen, Stresssituationen durch verschiedene Lösungswege zu meistern und vermeiden so, Stress durch Essen zu kompensieren. Daneben helfen unterschiedliche Übungen, um sich bei verschiedenen Stimuli, etwa Essensgerüchen, besser kontrollieren zu können. Dabei gibt es je nach Altersgruppe unterschiedliche Erfolgsquoten. Am einfachsten sind Kinder positiv zu beeinflussen, indem man einen ausgewogenen Lebensstil vorlebt und beibringt, bewusst zu Essen. Je älter die Person ist, desto schwieriger ist es, die negativen Verhaltensmuster zu durchbrechen.

Die Österreichische Adipositas Gesellschaft hilft bei der Suche von Therapieprogrammen für Kinder und Erwachsene.

Fazit

Mit der „Selfish-Brain"-Theorie liegt eine schlüssige Erklärung für eine der Ursachen von Adipositas vor. Diese besagt, dass das Gehirn jederzeit Energie aus dem Körper abziehen kann, um sich selbst zu versorgen. Sind diese Mechanismen gestört, befiehlt es zu essen, obwohl der Körper über genügend Energie verfügt. Dahinter stehen selten physische und häufiger psychische Gründe. Letztere können durch eine Verhaltenstherapie bewältigt werden.

Literatur

Biesalski HK, Bischoff SC, Pirlich M, Weimann A: Ernährungsmedizin. 5. Auflage, Georg Thieme Verlag, Leipzig (2017).
Hitze B et al.: How the selfish brain organizes its supply and demand. Frontiers in Neuroenergetics 2: 7 (2010).
Peters A et al.: The selfish brain: competition for energy resources. Neuroscience & Biobehavioral Reviews 28(2), 143–180 (2004).
Peters A: Stau in der Lieferkette: Die Ursachen von Adipositas aus neurobiologischer Sicht. In: Schärer-Züblin EV (Hrsg.): Forschung und Ernährung - ein Dialog. Verlag Wiley-Blackwell, Weinheim (2009).
Kubera B et al.:  The brain'ss upply and demand in obesity. Front Neuroenergetics 10(4): 4 (2012).
Schlichting K: Neuroendokrine Antwort auf Stress und Stress-bezogene Energiesupplementation bei normalgewichtigen jungen Männern. Univ. Diss., Universität Lübeck (2013).
Harris JJ, Jolivet R, Attwell D: Synaptic energy use and supply. Neuron 75(5): 762–777 (2012).

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