09.05.2006 von Dr. Marlies Gruber

Genuss: Sinnliche Gesundheitsförderung

Ernährung wird heutzutage viel zu selten mit Begriffen wie Freude, Genuss oder Entspannung assoziiert. Dagegen herrscht bei vielen der Glaube "Was gesund ist, das schmeckt nicht gut". Schade, denn Essen und Trinken bedeutet weit mehr als pure Nährstoffzufuhr, sie sind auch eine wesentliche Quelle für Lebensqualität und Lebens- zufriedenheit. Das bestätigen Umfragen immer wieder. Dennoch ist genussvolles Essen für viele Menschen eine sehr zwiespältige Angelegenheit.

Ein wesentlicher Grund für den Widerstand gegenüber Veränderungen des Lebensstils ist die Angst, dass damit eine Einschränkung von Genusserlebnissen verbunden ist. Insbesondere wenn es um die Ernährungsgewohnheiten geht. Doch diese Angst ist unberechtigt – vorausgesetzt man lernt, richtig zu genießen. Dass diese Fähigkeit nicht selbstverständlich ist, illustriert alleine die Beobachtung von Personen in Restaurants. Wie unachtsam, unaufmerksam und mit wie wenig Hinwendung zum Essen viele Menschen da an den Tischen sitzen zeigt, dass es keineswegs einfach ist, sich aktiv Genusserlebnisse zu schaffen.

Genießen bedeutet nicht Schlemmen!

Viele verwechseln "Genuss" mit "Völlerei". Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Um richtig genießen zu können, braucht es dazwischen auch Phasen des Verzichts. Zeitweilige Askese ist Voraussetzung für echte Genussfähigkeit. Rainer Lutz, Psychologe an der Universität von Marburg beschäftigt sich sehr intensiv mit dem Thema Genießen. Entstanden ist dies aus seiner Arbeit mit Personen, die u. a. an Essstörungen leiden, so könnte man etwa Magersucht auch als eine Form von "Genussphobie" beschreiben. Aus der Beschäftigung mit diesem Thema heraus ist Lutz zu dem Schluss gekommen, dass das Akzeptieren von Verzicht für die Entwicklung der Genussfähigkeit förderlich, wenn nicht sogar notwendig ist. Denn seelische Gesundheit bedeutet nicht ununterbrochenes Wohlbefinden, sondern im Gegenteil, den Wechsel von guten und schlechten Zeiten zu akzeptieren – quasi ein Mitschwingen mit dem Körperrhythmus. Dass dies auch physiologische Ausprägungen hat, zeigt die Tatsache, dass nach längeren Fastenphasen die Sensitivität der Geschmackspapillen wieder zunimmt. Jeder, der schon einmal gefastet hat weiß, wie köstlich simple, gekochte Kartoffeln schmecken können.

Genießen ist gesundheitsförderndes Verhalten

Essen und Trinken sind Grundformen sinnlicher Beanspruchung und können die Erlebniswelt der Sinne öffnen. Die Globalisierung auf dem Nahrungsmittelsektor hat jedoch auch zu einer Vereinheitlichung des Geschmacks geführt. Bei vielen Menschen ist dadruch die natürliche Empfindsamkeit für Sinneseindrücke beim Essen verkümmert. Weil Essen in unseren Breiten jederzeit, überall und uneingeschränkt möglich ist, verlernen viele bewusst zu essen. Bewusst im Sinne von sinnlich, also mit dem Einsatz aller fünf Sinne: Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen und Hören. Das ist schade, denn man beraubt sich damit genussvoller Erlebnisse. Vielfach aus (vermeintlichem) Zeitmangel oder einfach aus Unachtsamkeit sich selbst gegenüber. Dabei ist Genuss einer der grundlegendsten Faktoren, die gesund erhalten oder gesund machen.

Männer essen lustbetonter

Unterschiede im Ernährungsverhalten der Geschlechter sind seit langem empirisch nachgewiesen und werden mittlerweile auch im Kontext mit einer geschlechtergerechten Gesundheitsförderung diskutiert. Beratungs-, Präventions- und Therapiekonzepte sollten demnach ebenso genderspezifisch konzipiert werden, wie das Lebensmittel- oder Speisenangebot von Herstellern und Restaurants.

Unterschiede bei der Lust am Essen lassen sich bereits in der frühpubertären Phase feststellen. In einer Befragung gaben zum Beispiel Buben deutlich häufiger als Mädchen an, dass sie für ein gutes Essen jederzeit alles liegen und stehen lassen würden, dass das Essen zu den schönsten Dingen in ihrem Leben gehört und dass sie sich nach einer Mahlzeit besonders wohl und fit fühlen. Mädchen äußern dagegen häufiger körperbezogene Ängste und Kontrollwünsche. Für viele Mädchen scheint Essen ein Bereich zu sein, der eine potenzielle Bedrohung darstellt und deshalb besonders umsichtig behandelt werden muss.

Natürlich setzt sich das bis ins Erwachsenenalter fort. Während sich mehr als die Hälfte der Männer beim Essen ausschließlich vom Geschmack leiten lassen, trifft das nur auf jede vierte Frau zu. Für die Hälfte der Frauen ist Essen viel mehr ein Bereich, der einer besonderen Kontrolle unterliegt. Demnach sollten sich Bemühungen, Essen wieder mit Genuss zu koppeln bevorzugt auf Mädchen und Frauen konzentrieren. Damit schlechtes Gewissen beim Essen wieder von Freude am Genuss verdrängt wird.

Literatur

Diedrichsen I: Genusstraining: Schule des Genießens. Ernährungs-Umschau 46 (11): S. 405 – 408 (1999).

Ellrott T: Genuss gehört dazu. Flexibles Ernährungsverhalten macht das Leben leichter. Moderne Ernährung Heute, Ausgabe 3/2003.

Lutz R, Sundheim D: Das Euthyme Konzept: Genuss zum Wohle der Gesundheit – Psychologische Aspekte gesundheitsfördernder Ernährung. Internationaler Arbeitskreis für Kulturforschung des Essens – Mittelungen 9/2002, S. 14 – 24.

Setzwein M: "Männliches Lustprinzip" und "weibliches Frustprinzip"? Ernährung, Emotionen und die soziale Konstruktion von Geschlecht. Ernährungs-Umschau 51 (12): S. 504 – 507 (2004).

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