Markt.Wert.Wahrnehmung. Was ist Essen wert?

4. f.eh-SymposiumMarkt. Wert. Wahrnehmung. Was ist Essen wert?

Rückblick

Tagungsrückblick

Die Wertediskussion ums Essen entpuppt sich bei näherer Betrachtung als facettenreich und kontrovers. Schließlich definiert jeder für sich den Wert für Lebensmittel ganz unterschiedlich. Neben den Preisen spielen dabei auch soziokulturelle und psychologische Faktoren eine gewichtige Rolle. Das forum. ernährung heute veranstaltete am 5. Juni 2013 ein Symposium zum Thema „Markt. Wert. Wahrnehmung. Was ist Essen wert?", das den "Wert" des Essens und den Umgang mit Lebensmitteln unter einem multiperspektivischen Ansatz beleuchtete. Namhafte Redner aus verschiedenen Disziplinen diskutierten mit rund 120 Teilnehmern.

Was man unter „Wert" versteht, hängt zum Großteil von emotionalen Komponenten und persönlichen Erwartungshaltungen ab. Aus ökonomischer Sicht steigt der Marktwert eines Lebensmittels mit jedem Schritt in der Wertschöpfungskette. Produktionstechnologien und Produktverfügbarkeit beeinflussen ihn und Produktmarken wecken bei Konsumenten Emotionen, vermitteln Qualität und Wert. Dabei geht es nicht nur um die „inneren" Werte eines Produktes, auch die Optik muss stimmen. Wer würde schon zur eingedäpschten Packung greifen? Eine Diskrepanz zwischen den Wertvorstellungen der Konsumenten und ihrem Kaufverhalten verdeutlichte der Ökonom Dr. Christian Kreuzer vom Controller Institut Wien u. a. am Beispiel „Fleisch": Viele essen regelmäßig Fleisch und halten Tierschutz für unabdinglich. Für die Einhaltung artgerechter Bedingungen wollen sie jedoch nicht den adäquaten Preis zahlen. Als eines der statusträchtigsten Lebensmittel beleuchtete auch Dr. Manuel Trummer (Universität Regensburg) Fleisch aus kulturhistorischer Sicht. Je nach kulinarischem Code und traditionell zugeschriebenen Werten lässt sich für Lebensmittel ein mehr oder weniger stark ausgeprägter Geschmackskonservatismus darstellen. Bei Fleisch liegt dieser eben sehr hoch.

Fairer Preis 

Wie sich der Wert eines Lebensmittels im Preis abbildet und welchen Einflussfaktoren dieser unterliegt, erläuterte Mag. Walter Schönthaler (Schönthaler Consulting e. U.). Er skizzierte die Rahmenbedingungen der österreichischen Lebensmittelhersteller und den strukturellen Wandel der heimischen Unternehmen von der Monarchie über den EU-Beitritt bis heute. Preise für Rohstoffe sind unberechenbar geworden, Handelsmarken boomen und kleine und mittelständische Betriebe müssen sich in der „Sandwich"-Position zwischen internationalen Rohstofflieferanten und ihren Kunden, den Handelsunternhemen, positionieren.

Vielfalt geht verloren         

Seitenwechsel: Dass bei der Wertediskussion rund ums Essen die kulturelle Komponente eine wesentliche Rolle spielt, zeigt sich bei der Auswahl, beim Anbau und Umgang von und mit Lebensmitteln. „Die biologische Sortenvielfalt schwindet [...] die Verbundenheit und die Wertschätzung zwischen Mensch und Pflanze ist in der modernen Landwirtschaft verloren gegangen", sagte Mag. Beate Koller, Geschäftsführerin der Arche Noah. Vor Jahrtausenden wurden Bohnen und Kürbis in Kultur genommen und dienten den indianischen Urvölkern nicht nur als Nahrungsmittel, sondern wurden auch in Zeremonien verehrt. Und Mais wäre nie zur Kulturpflanze in unseren Breitengraden geworden, hätte es die helfende Hand des Menschen zum Zeitpunkt der Spontanmutation nicht gegeben. In der modernen Landwirtschaft gehen die biologische Vielfalt und die traditionelle Verkettung mit der Natur drastisch zurück, einzelne Hochleistungssorten decken einen großen Marktteil ab. Koller wies darauf hin, dass ein standortgerechter Anbau altbewährter Sorten oftmals den Einsatz von Pestiziden oder genetisch veränderten Organismen einschränken kann.

Wertewandel

Früher dienten Lebensmittel auch nicht nur der bloßen Nahrungsaufnahme: Essen symbolisierte gesellschaftliche Fürsorge und sicherte das Überleben der Familie. Nahrungsmittel wurden in religiösen Riten geopfert, man teilte sie und gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Seit den 1960er-Jahren hat sich der Wert der Lebensmittel in der Gesellschaft stark gewandelt. Produkte sind im Überfluss vorhanden und jederzeit verfügbar, haben an materiellem Wert verloren und in Folge auch an ideeller Bedeutung.  „Das Symposium des f.eh ist ein Zeichen für das wachsende Bewusstsein, dass hier Handlungsbedarf gegeben ist", so Mag. Martin Haiderer von der Wiener Tafel. Er forderte wieder mehr Bezug zur Natur und dessen Förderung vor allem bei Kindern. Denn sie sind die Konsumenten von morgen und wenn sie „einen Karfiol als Dekoelement für die Vase halten, liegt einiges im Argen".

Den achtlosen Umgang mit Nahrungsmittel spiegeln auch (teils vermeidbare) heimische Müllberge wider: In Österreich wirft jeder Haushalt ca. 19 kg Lebensmittel in den Müll, obwohl sie noch genießbar wären. Nicht eingerechnet sind jene Lebensmittel, die auf dem Kompost oder im Kanal enden. Dipl.-Ing. Felicitas Schneider von der BOKU Wien wies darauf hin, dass beispielsweise ein verbessertes Verständnis für die Angabe des Mindesthaltbarkeitsdatums unnötige Abfälle reduzieren kann. Denn Eier werden beispielsweise noch vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums entsorgt, ganze Brotlaibe und Schachteln mit unangetasteten Schaumrollen landen in der Tonne, in die Dr. Albert Washüttl, selbsternannter „Wastediver", regelmäßig abtaucht. Er protestiert damit auf ungewöhnliche Weise gegen Lebensmittelverschwendung und verweigert bewusst die Teilnahme an der Wegwerfgesellschaft, in der jeder Produktkauf einer Nachbestellung gleichkommt. Der Boykotteur lebt von dem, was Handelsketten und Privathaushalte wegwerfen, und präsentierte dem Publikum eine Kiste voll mit „frisch gefundenen" Bananen, Brot, Paprika und anderen verzehrfähigen Nahrungsmitteln.

Viele Lebensmittelunternehmen und auch die Gastronomie haben bereits die Weichen gestellt und setzen zunehmend Maßnahmen gegen vermeidbare Lebensmittelabfälle um. Dabei ist Kreativität gefragt: Bußgelder für nicht aufgegessene Portionen vom Buffet, Brot vom Vortag zum halben Preis oder ein eingeschränktes Frischwarensortiment vor Ladenschluss sollen Lebensmittelverschwendung eindämmen und die Produkte wieder ihrem ursprünglichen Zweck - dem Genuss - zuführen.

Doppelmoral des Konsumenten

„Alle wollen zurück zur Natur - nur nicht zu Fuß!", reklamierte Prof. Ulrich Nöhle (TU Braunschweig). Neben der kulturellen Prägung beeinflusst Werbung das Werteempfinden und die Wahrnehmung von Lebensmitteln. Bilder von glücklichen Kühen auf der Weide und nostalgisch gestaltete Etiketten auf Lebensmittelverpackungen verleihen den Produkten emotionalen Mehrwert. Dass heutige Produktionsbedingungen jedoch kaum mit den nostalgischen Bildern übereinstimmen und Effizienz und Sicherheit großteils der Modernisierung zuzuschreiben sind, geht häufig in der Diskussion unter. Wird Konsumenten klargemacht, zu welchen Bedingungen günstig produziert werden kann, schreien viele „Skandal!". Sie fordern hohe (Bio-)Qualität, artgerechte Tierhaltung sowie Fair-Trade und sehnen sich nach traditionell hergestellten Lebensmitteln, sind jedoch nicht immer bereit, entsprechende Preise dafür zu zahlen.

Werte in Diskussion

Dass es für Produzenten anstrengender ist, die Realität statt der Idylle zu kommunizieren, konstatierte auch Dr. Michael Blass, Geschäftsführer von AMA-Marketing. Wenn jeden Tag unzählige Sonderaktionen mit Dumpingpreisen locken, fällt es schwerer, Wertbewusstsein zu schärfen, und für Konsumenten stellt sich klarerweise die Frage, wem noch zu trauen ist. Blass spricht sich für eine Rückbesinnung aus und fordert einen achtsameren Umgang mit den „Mitteln zum Leben". „Wir denken viel zu wenig über unser Essen nach", betonte auch Mag. Martina Hörmer (Ja! Natürlich) und pochte auf mehr Aufklärung sowie Bildung bei den Endverbrauchern, damit der Wert der Produkte realistisch eingeschätzt werden kann. Dabei ist eine sachgerechte, offene und wahrheitsgetreue Kommunikation über die Lebensmittelherstellung gefragt. Werbung soll und darf jedoch das bleiben, was sie ist, und mit emotionalen Facetten arbeiten. Denn Konsumenten sind durchaus medienkompetent, nehmen Werbung als Werbung wahr und vertragen auch die Wahrheit, ist Peter Augendopler, Geschäftsführer von backaldrin, sicher.


Der Diskurs über die Wertigkeit unserer Nahrung ist kontrovers. Klar ist jedoch: Essen muss wieder mehr wert sein. Kulturell und materiell. Dabei gilt es in erster Linie, an der Verbraucherbildung zu arbeiten - und das von Kindesbeinen an. Konsumenten sollen schließlich über landwirtschaftliche und industrielle Erzeugung, die Verarbeitung und Zubereitungsmethoden - vom Acker bis zum Teller - Bescheid wissen, um wieder ein Gespür für den Wert und Preis bei Lebensmitteln entwickeln zu können, ohne dabei in ein doppelmoralisches Dilemma zu schlittern.

Programm

Programm als pdf

ab 9.00 Uhr

Begrüßung


Peter Reinecke
, Präsident des f.eh

09.30-09.45 Uhr

Wertschätzung vs. Wertschöpfung: Was ist Wert? 


Christian Kreuzer
,
Controller-Institut

10.15-10.45 Uhr

Preispolitik für Lebensmittel - aus der Sicht eines Praktikers

Walter Schönthaler, Schönthaler Consulting e.U.

10.45-11.15 Uhr

Sortenvielfalt: biologischer und
kultureller Reichtum


Beate Koller
, Arche Noah

11.15-11.45 Uhr

Kaffeepause

11.45-12.15 Uhr

Lebensmittel für den Müll?

Felicitas Schneider, BOKU Wien

12.15-12.45 Uhr

Der Wert des Nährenden


Martin Haiderer
, Wiener Tafel

12.45-13.00 Uhr

Publikumsdiskussion 

13.00-14.00 Uhr

Mittagspause

14.00-14.45 Uhr

Werbung, Wahrnehmung und doppelte Moral!


Ulrich Nöhle
, TU Braunschweig

14.45-16.00 Uhr

Werte in Diskussion                      

_Michael Blass, AMA Marketing
_Peter Augendopler, backaldrin
_Martina Hörmer, ja! Natürlich
_Albert Washüttl, Wastediver

16.00-16.30 Uhr

Kaffeepause

16.30-17.15 Uhr

Kultural oder kognitiv: Wie essen wir?


Manuel Trummer
, Uni Regensburg

17.15-17.30 Uhr

Zusammenfassung & Abschlussstatement


Moderation: Marlies Gruber & Jürgen König

Unterlagen

Wertschätzung vs. Wertschöpfung: Was ist Wert?  

Dr. Christian Kreuzer, Controller-Institut
Abstract
 
Präsentation


Preispolitik für Lebensmittel - aus der Sicht eines Praktikers

Mag. Walter Schönthaler, Schönthaler Consulting e.U.
Abstract

                       

Sortenvielfalt: biologischer und kultureller Reichtum

Mag. Beate Koller, Arche Noah
Abstract
Präsentation
                           
          

Lebensmittel für den Müll? 

Dipl. Ing. Felicitas Schneider, BOKU Wien
Abstract
Präsentation


Der Wert des Nährenden

Mag. DSA Martin Haiderer, Wiener Tafel
Abstract


Werbung, Wahrnehmung und doppelte Moral! 

Prof. Dr. Ulrich Nöhle, TU Braunschweig
Abstract
Präsentation

               
Werte in Diskussion

Dr. Michael Blass, AMA Marketing
Präsentation

Dr. Albert Washüttl
Präsentation


Kultural oder kognitiv: Wie essen wir? 

Dr. Manuel Trummer, Uni Regensburg
Abstract
Präsentation

Medienecho

Aus dem Medienecho
orf.at 6. Juni 2013

„Obwohl unser gesellschaftlicher Wohlstand wesentlich auf der preisgünstigen Nahrungsmittelerzeugung fußt, sehnen wir uns quasi diametral nach ,früher' und nach Lebensmitteln von ,Oma's Bauernhof', den es nicht mehr gibt.“

[Ulrich Nöhle]

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Fotogalerie
DAS MAGAZIN

ernährung heute 1_2020

Während der Ruf nach Tierwohl und Nachhaltigkeit lauter wird, wird die Kluft zwischen Wunsch und individuellem Kaufverhalten größer.  Denn wenn es um die CO2-Emissionen geht, wird es komplex: Bilanzierungsmodellen und Datengrundlagen.

Foto: f.eh
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NEU Aufgedeckt. Gerüchteküche und Ernährungsmythen

Autor(en): Bisovsky S, Unterberger
Verlag: Österreichischer Agrarverlag
Erscheinungsjahr: 2009
ISBN: 978-3-7040-2350-6.

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Für Kinder mit Zöliakie kochen!

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Wenn das Spiegelbild ein Eigenleben führt

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Erscheinungsjahr: 2009
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Die Molekülchen Küche-Experimente für Nachwuchs-Köche

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Verlag: Österreichischer Agrarverlag
Erscheinungsjahr: 2009
ISBN: 978-3-7040-2350-6.

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