07.05.2015 von Redaktion

Hanf als Arznei gegen Mangelernährung?

Cannabinoide aus der Hanfpflanze regen den Appetit an. Was genau passiert aber im Körper? Wie beeinflussen die Wirkstoffe die Appetitregulierung? Welche Gehirnzellen und Rezeptoren spielen eine Rolle? Und bei welchen Therapien hat dieser Effekt Potenzial?

Delta-9-Tetrahydrocannabinol, kurz THC, heißt der wirksamste aller 60 Inhaltsstoffe in der Cannabispflanze. Er vermag es, psychoaktive Rauschzustände auszulösen und den Hunger anzuregen, was auch pharmakologisch genutzt wird. Über die Blutbahn gelangt THC ins Gehirn und dockt dort an Rezeptoren an, einer davon ist der Cannabinoidrezeptor 1 (CB1R). Er ist an der Steuerung von appetitanregenden und -hemmenden Hormonen beteiligt. Zudem beeinflusst der Hanfwirkstoff THC das Geruchszentrum. So nehmen THC-Konsumenten das Essen intensiver wahr und der Appetit steigt.

Neues zum Heißhunger-Effekt

Ob darüber hinaus noch andere Prozesse ablaufen, die zum gesteigerten Hungergefühl bei THC-Konsum führen, untersuchten Forscher der Yale-Universität. Sie verabreichten Mäusen neben Essen das Rauschmittel der Cannabispflanze. Dabei beobachteten die Wissenschafter, was sich im Gehirn abspielt. Offenbar sind nicht nur die Rezeptoren, wie der Cannabinoidrezeptor (CB1R), für die Heißhungerattacken verantwortlich, sondern auch ein Nervennetzwerk im Hypothalamus. Das besteht aus sogenannten POMC-Nerven (Hypothalamic pro-opiomelanocortin), die eine Art Schalter im Gehirn bilden. Hat man gerade gegessen, wird er auf „Nicht-Essen“ umgeschaltet und so eine weitere Nahrungsaufnahme verhindert. In den Mäuse-Versuchen mit THC zeigte sich ein erhöhtes Aktivitätslevels der POMC- Zellen. Eigentlich hätten die Mäuse unter Drogeneinfluss also weniger Hunger haben sollen. Stattdessen hatten sie Fressattacken. Die Erklärung dieser paradoxen Beobachtung: THC aktiviert nicht den Schalter, sondern zerstört ihn. Dadurch senden die POMC-Nerven das Signal „Essen“ statt „Nicht-Essen“.

Wissenswert

Versuche mit Mäusen dienen der Grundlagenforschung: Warum wirkt der Stoff xy so und nicht anders? Was passiert im Körper? Natürlich ist eine Maus kein Mensch. Trotzdem, so die Wissenschafter, funktioniert die Maschinerie im Hypothalamus im Prinzip bei allen Säugetieren identisch.

Medizinische Appetitstimulanzie

Im Verlauf von Krebs- oder Aids-Erkrankungen verlieren Patienten oftmals ungewollt Gewicht. Das kann eine Folge von Operationen und Bestrahlungstherapien ebenso sein wie von geringer Nahrungszufuhr oder katabolen Zuständen. Katabole Zustände umfassen Muskelabbau, Entzündungen, verminderten Appetit, gesteigerte Level der Stresshormone Kortisol und Adrenalin sowie verringerte Spiegel anaboler Hormone (Wachstumshormone und Testosteron). Der Körper greift im katabolen Zustand schneller auf seine Kohlenhydratreserven zurück und startet, Eiweiß zur Energieversorgung heranzuziehen. Eine ausreichende Versorgung mit Energie und Eiweiß ist zur Erhaltung der Muskelmasse und für das Überleben entscheidend. Denn Muskelverlust kann eine Abwärtsspirale auslösen: er führt zu reduzierter Immunabwehr, einem erhöhten Risiko für Infektionen, einer verminderten Heilungsrate, Schwäche und erhöht das Mortalitätsrisiko.

Wegen der appetitanregenden Wirkung kommen Cannabinoide in manchen Ländern daher in der Therapie bei zum Einsatz.  So sind beispielsweise in den Vereinigten Staaten THC-Appetitstimulanzien in der Chemotherapie zugelassen. In Deutschland und Österreich wird THC lediglich als Betäubungsmittel eingesetzt. Denn die wissenschaftliche Datenlage zur Wirksamkeit ist derzeit uneinheitlich. Ältere Studien zeigen, dass Hanfinhaltsstoffe sich nicht oder nur wenig auf das Hungergefühl oder Körpergewicht auswirken. Eine Studie von 2011 belegte hingegen signifikante Verbesserungen: Nachdem die Tumorpatienten zwei Mal täglich 2,5 mg THC für 18 Tage aufnahmen, verbesserte sich ihre sensorische Wahrnehmung und das Essen schmeckte ihnen besser. Ihre Kalorienaufnahme stieg um 130 kcal im Vergleich zur Placebo-Gruppe.

THC gegen Mangelernährung im Alter?

Auch ohne Erkrankung steigt mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit, mangelernährt zu sein. Mehr als 20 % von Pflegeheimbewohnern weisen laut österreichischem Geriatrie-Bericht einen schlechten Ernährungszustand auf. Weshalb ältere Personen zu wenig essen, hat viele Ursachen. Eine davon ist das verminderte Hungergefühl. Dabei handelt es sich um einen natürlichen Mechanismus, weil der Körper im Alter weniger des appetitanregenden Hormons Ghrelin produziert. Um das Verlagen nach Essen zu erhöhen, könnte auch THC den Hypothalamus älterer Menschen manipulieren. Ein durchaus ungewöhnlicher, wenngleich naheliegender Ansatz hinsichtlich der aktuellen Forschungsergebnisse.

 

Literatur

Bertz H & Zürcher G: Ernährung in der Onkologie. Schattauer Verlag, Stuttgart (2014).
Birsbois TD et al: Delta-9-tetrahydrocannabinol may palliate altered chemosensory perception in cancer patients: results of a randomized, double-blind, placebo-controlled pilot trial. Ann Oncol 22: 2086-93 (2011).
Blum D, Omlin A, Strasser F: Gewichts- und Appetitverlust bei Krebspatienten. Ars Medici 19: 799-802 (2009).
Bundesministerium für Gesundheit: Gesundheit und Krankheit der älteren Generation in Österreich (2012). (Zugriff am 23.04.2015).
Koch M et al:  Hypothalamic POMC neurons promote cannabinoid-induced feeding. Nature 519: 45-50 (2015).

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