09.03.2018 von Lisa Strebinger, BSc MA

„Nein! Ich esse meine Suppe nicht!“

Es gibt Kinder, die nicht essen wollen. Sie geben sich oft mit nur wenigen Bissen zufrieden. Das muss nicht immer mit Machtkämpfen zwischen Eltern und ihren Sprösslingen zu tun haben. Denn bereits Babys und Kleinstkinder können an Essstörungen leiden. Diese sollten in jedem Fall beachtet und wenn nötig therapiert werden. Wie erkennt man, wann es sich um eine Essstörung handelt und was kann man tun?

„Nein, nein, nein, nein!“, schreit der 18 Monate alte Tim voll Tränen in den Augen durch das Esszimmer und wackelt mit seinem Hochstuhl voller Kraft vor und zurück, dass dieser droht jeden Moment umzukippen. Wusch! Und mit einem Mal wird die Suppenschüssel quer durch den Raum geschossen. Es bietet sich ein Schlachtfeld dar, verursacht durch Reste aus gematschter Banane, abgebissener Semmel, eine Suppenlache auf dem Boden und sogar ein Stückchen Schokolade liegt auf dem Tisch, vollkommen unangetastet. Mutter Sabine versucht innerlich Ruhe zu bewahren, redet quietschvergnügt auf ihren Sohn ein und trällert immer wieder mal fröhlich ein Lied, um den Buben zum Essen zu motivieren. Wenn er schließlich drei Löffel von irgendetwas Hochkalorischem hinunter gewürgt hat, ist das ein Erfolg. Tim leidet unter einer sogenannten restriktiven Fütterstörung.

Nur wenige betroffen

Eine schlechte und unwillige Nahrungsaufnahme ist in der Frühkindheit kein exotisches Krankheitsbild, sondern betrifft viele Säuglinge und Kleinkinder. Bereits in den ersten Lebenswochen haben drei von zehn Babys zumindest eine Zeit lang Probleme während des Stillens oder des Fläschchensaugens. Entweder trinken sie nicht häufig oder ausreichend genug, quengeln und weinen während der Milchaufnahme oder sind umgekehrt langsame Dauernuckler, die nie satt zu kriegen sind. Meist vergehen diese Phasen wieder. In den folgenden zwei Lebensjahren, wenn die Kinder bereits mit den Großen mitessen, haben 15-25 % der Eltern mit leichten bis mittleren Fütterproblemen zu kämpfen. Wirklich schwere Fälle betreffen im Schnitt aber nur vier von 100 Kleinkindern. Fütter- oder Essstörungen treten häufig auch bei Kindern auf, die an einer Herz- oder Lungenerkrankung leiden. Das Essen ist für Kinder aufgrund der Erkrankung qualvoll.

Der heute 1,5-jährige Tim wurde als Baby gestillt, häufig saugte er zügig und zeigte sich äußerst schnell satt. Als es mit der Beikost losging, war er anfangs interessiert, aber viel gegessen hat er nie. Einige Wochen vor seinem ersten Geburtstag begann der kleine Suppenkasper, Nahrung gänzlich zu verweigern. Selbst Speisen, die er früher gemocht zu haben schien, wurden ausgespuckt oder der Mund blieb von Vornherein gänzlich verschlossen. Essen wurde zur Stresssituation, für Eltern und Kind. 

Sechs verschiedene Fütterstörungen

Generalisierte Regulationsstörung:  Tritt zwischen der Geburt und dem dritten Lebensmonat auf. Diese Kinder schreien häufig und haben oftmals Schlafprobleme. Ein Wachzustand, in dem das Füttern problemlos funktioniert, ist kaum vorhanden. Dadurch entwickelt sich kein regelmäßiger Trink-Rhythmus. Das Problem ist meist, dass diese Babys Zeit brauchen, um sich an ihre Umwelt zu gewöhnen. Hier ist Geduld gefragt, manchmal der Rat einer Stillberaterin oder einer Hebamme.  

Fütterstörung mit mangelnder Eltern-Säugling-Wechselwirkung:  Diese Störung beginnt zwischen zwei und acht Monaten. Bei diesen Kleinkindern fehlt die soziale Interaktion mit den Eltern oder anderen Bezugspersonen, vor allem während des Fütterns. Die Babys vermeiden Augenkontakt, lächeln kaum, plappern nicht, benötigen aber überdurchschnittlich viel Schlaf.

Infantile Anorexie (Restriktive Fütterstörung): Erste Anzeichen einer restriktiven Fütterstörung sind, wenn die Nahrungsaufnahme länger als ein Monat von den Eltern als problematisch angesehen wird. Die durchschnittliche Fütterzeit beträgt über 45 Minuten oder die Mahlzeiten finden mindestens alle zwei Stunden statt. Die Symptomatik tritt meist zwischen dem neunten und 30. Lebensmonat auf. Der Unterschied zur Anorexia nervosa (der „echten“ Magersucht) ist, dass infantile Anorexie nicht psychisch bedingt ist. Die Kinder haben schlichtweg keine Lust zu essen oder kennen tatsächlich kein Hungergefühl.

Selektive Fütter-/Essstörung: Kinder verweigern bestimmte Lebensmittel aufgrund von Aussehen, Geschmack oder Konsistenz. Die Probleme treten vor allem dann auf, wenn neue Nahrungsmittel auf den Speiseplan kommen. Häufig ist Starrsinn die Ursache oder spezielle Lebensphasen: Die Kinder verziehen das Gesicht, spucken den Bissen aus oder beginnen zu würgen. Dieser Zustand ist auch als Neophobie bekannt und hat ursächlich mit Angst etwas Neues zu probieren, zu tun. Da müssen die Eltern Ruhe bewahren. Hilfreich sind auch Lob oder Belohnungen. Bis zu 15 % aller Menschen sind jedoch sogenannte „Supertaster“ und haben mehr und sensiblere Geschmackspapillen und Tastsensoren im Mund als andere. Sie reagieren empfindlicher auf Lebensmittel und Geschmäcker.

Posttraumatische Fütter-/Essstörung: Hier gibt es einen bestimmten traumatischen Auslöser, der mit der Nahrungsaufnahme verbunden wird. Das kann Verbrennen an zu heißem Essen sein, Verschlucken mit Atemnot, eine Fischgräte, die stecken bleibt oder auch Zwangs- und Sondenernährung. In schweren Fällen müssen Psychologen zu Rate gezogen werden.

Fütter- und Essstörung bei medizinischen Erkrankungen: Bei dieser Essstörung wird die Nahrung aufgrund einer Stresssituation, Schmerzen oder rascher Ermüdung beim Füttern, verweigert. Die Kinder wollen zwar essen, verweigern aber sofort, wenn Schmerzen oder Unwohlsein auftreten. Die Essstörung bessert sich, wenn die Grundproblematik bzw. -erkrankung behoben wird.

 

Wissenswert

Die sensorische, die posttraumatische Fütterstörung, sowie die Essstörung aufgrund von Erkrankungen sind unabhängig von einem bestimmten Entwicklungsalter. Sie werden auch bei älteren Kindern beobachtet.

Eine Fütterstörung kommt nicht alleine

Unterschiedliche kindliche und elterliche Faktoren werden für die Entstehung von Fütterstörungen verantwortlich gemacht: Physiologische, psychologische und verhaltenstheoretische Aspekte spielen eine Rolle. Kindliche Faktoren wie Frühgeburt, organische Beeinträchtigungen, aber auch das Temperament sind ebenso zu berücksichtigen wie Erziehungsunsicherheiten der Eltern, Partnerschaftsbeziehungen oder elterliche Belastungen. Entscheidend ist die Wechselwirkung der Eltern mit den Kindern, d.h. wie entspannt laufen Füttersituationen ab. Unsicherheiten oder Ängste der Eltern schaukeln sich oftmals mit dem Temperament des Kindes auf. Dadurch reagiert es meist mit Nahrungsverweigerung. Das schränkt die Lebensmittelauswahl drastisch ein.

Angst und Zwischenmahlzeiten führen zu Teufelskreis

Viele Eltern haben Angst vor Mangelerscheinungen, eine Tatsache, die den Druck und den Zwang „das Kind muss doch etwas essen“, noch verstärkt. Meist wird dann noch häufiger etwas Essbares angeboten, egal zu welcher Tages- und Nachtzeit. Verzweifelt greifen Mama und Papa zu Lebensmitteln, die das Kind ja mögen müsste, wie Kekse, Schokolade oder Knabberei. Ein Teufelskreis entsteht, denn so lernt das Kind nie, hungrig zu sein und was regelmäßige Mahlzeiten bedeuten. Um schlimme Folgen, wie eine verzögerte körperliche oder geistige Entwicklung zu vermeiden, ist es ratsam den Kinderarzt aufzusuchen oder eine Therapie zu machen. Diese bezieht Eltern und Kinder ein. Eltern werden angeleitet, wie sie am besten bei der Fütterung vorgehen, wie viel Zeit von einer zur anderen Mahlzeit verstreichen soll und welche gut gemeinten psychologischen Tricks besser außen vor gelassen werden sollten. Denn Lob, Kritik oder Hilfsmittel sind meist eher kontraproduktiv. Eltern lernen außerdem mit Abwehrreaktionen des Kindes umzugehen. Es geht also nicht nur um das Essen, wichtig sind auch psychologische Aspekte.

Leitsymptome für die unterschiedlichen Typen von Fütterstörungen

 

Symptomatik des KindesZugehörige Form der Fütterstörung
geringer Appetit und zu geringe Nahrungsaufnahme, um adäquat zu wachsen; zeigt wenig Hungersignale und kaum Interesse am Essen, spielt stattdessen lieberwenn < 6 Monat: Fütterstörung mit Beeinträchtigung der homöostatischen Regulation
wenn > 6 Monate: Infantile Anorexie

hat sehr geringes Nahrungsspektrum von wenigen Nahrungsmitteln;
verweigert andauernd bestimmte, oder Gruppen von Nahrungsmittel;

verweigert aus der Flasche oder Becher zu trinken, isst aber feste Nahrung;

verweigert feste Nahrung, trinkt aber aus der Flasche oder dem Becher;

verweigert feste Nahrung, ist aber pürierte Nahrung

 

 

sensorisch bedingte Nahrungsaversion oder posttraumatische Fütterstörung

verweigert die meisten Nahrungsmittel und muss per Nasensonde oder PEG-Sonde ernährt werdenposttraumatische Fütterstörung oder Fütterstörung im Zusammenhang mit einer medizinischen Erkrankung
verweigert bestimmte Nahrungsmittel an einem Tag, akzeptiert sie aber am darauffolgenden Tagbei adäquatem Gewicht: oppositionelles Fütterverhalten von Kleinkindern, oft mit Nahrungsverweigerung
weint und überstreckt sich während des Fütterns, ermüdet schnell beim Füttern und isst zu wenigwenn < 6 Monate: Fütterstörung mit Beeinträchtigung der homöstatischen Regulation
schläft während des Fütternswenn <6 Monate: Fütterstörung mit Beeinträchtigung der homöstatischen Regulation
würgt oder erbricht vor, während oder nach dem Füttern

sensorisch bedingte Nahrungsaversion oder posttraumatische Fütterstörung

Fütterstörung im Zusammenhang mit einer medizinischen Erkrankung
weint, wenn es zum Füttern hingesetzt wird oder ihm Nahrung vorgesetzt wirdposttraumatische Fütterstörung

nach Chatoor, 2009 und Hommel 2010

Gemeinsame Mahlzeiten fördern

Oftmals werden Kind und Eltern in speziellen Therapiezentren von Psychologen und Ärzten bei der Fütterung beobachtet, manchmal genügt auch ein ausführliches Gespräch, um die Situation einschätzen zu können. Meistens werden Mutter und Vater angewiesen, ihrem Schützling nur alle vier Stunden eine Mahlzeit anzubieten, die gemeinsam am Tisch stattfinden soll. Denn Kinder lernen durch Abschauen. Wenn sie sehen, dass auch die Eltern einen Teller vor sich haben und essen, dann fällt es ihnen oft leichter zu essen. Die Kinderportionen sollen besonders klein gehalten werden, um den vermeintlichen Suppenkaspar nicht zu überfordern. Es sollen keine Hilfsmittel wie Spielzeug, Handy oder Musik verwendet werden, auch Lob und Kritik sind tabu. Nach 30 Minuten ist die Mahlzeit zu Ende, egal wie viel das Kind gegessen hat. In langsamen Schritten wird es sein Körpergefühl kennenlernen und irgendwann verstehen, was „Sattsein“ und „Hunger“ bedeuten.

Lesen Sie hier mehr über Familienessen und Vorbildrolle der Eltern.

 

 

Buchempfehlungen

 

Chatoor I: Fütterstörungen bei Säuglingen und Kleinkindern: Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten.
Klett-Cotta Verlag (2016),
203 Seiten, gebunden,
ISBN-13: 978-3608947182
Preis: € 29,95

Hübler N, Winkler S: Ernährung im Säuglings- und Kindesalter: Entwicklung und Auffälligkeiten.

Schulz-Kirchner Verlag (2012),

64 Seiten, gebunden,

ISBN-13: 978-3824809936

Preis: € 9,49

Schwarz-Gerö: Baby, warum isst du nicht? Essprobleme verstehen und lösen.

Patmos Verlag (2012),

192 Seiten, brochiert,

ISBN-13: 978-3843600330
Preis: € 16,00

 

Literatur

Hofacker M: Fütter- und Essstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter. www.santa-maria.de/media/files/blockcontent/2014-06/Artikel_Fuetter_Essstoerungen.pdf (Zugriff am 1.3.2018)

Hommel S: Klassifikation und Diagnostik von frühkindlichen Fütter- und Essstörungen“, Pädiatrie 4+5 (2010) www.rosenfluh.ch/media/paediatrie/2010/04-05/Klassifikation_und_Diagnostik_von_fruehkindlichen_Fuetter_und_Essstoerungen.pdf (Zugriff am 2.3.2018)

Dunitz-Scheer M: Frühkindliche Essstörungen. www.researchgate.net/publication/263071576_Fruhkindliche_Essstorungen_Kinder_sind_keine_Gefasse

 

 

 

 

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