26.06.2009 von Dr. Marlies Gruber

Small World

Aufgrund des demographischen Alterungsprozesses gewinnen alterspezifische Themen an Bedeutung – so auch die Demenz. Welchen Einfluss allein der Ernährungszustand auf die Entwicklung übt, ist zunehmend gesichert.

Welches Datum haben wir heute? Welche Jahreszeit? Wo befinden Sie sich jetzt gerade? Subtrahieren Sie fortlaufend von 100 die Zahl 7! Oder buchstabieren Sie das Wort WOCHE rückwärts. Ein paar Komponenten der Mini Mental State Examination, des Tests, der rasch auf Demenz prüft. Einfache Fragen, deren Antworten erste Anzeichen von Alzheimer oder einer anderen Demenzerkrankung offen legen. Univ.-Prof.Dr. Peter Dal-Bianco, Leiter der Spezialambulanz für Gedächtnisstörungen an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien, beschreibt die Warnsymptome der Erkrankung so: „Erst vergisst der Patient Namen, Nummern oder Ereignisse oder verlegt Gegenstände. Die zeitliche und räumliche Orientierung werden allmählich zu einem Problem. Es ist, als ob sich der Patient in einem Nebel verlieren würde.“ Das Tückische daran: Die Betroffenen bemerken die Veränderung, entwickeln aber Strategien, um ihre „Unzulänglichkeiten“ zu kaschieren – selbst vor den nächsten Angehörigen. Sie delegieren z. B. einfache Tätigkeiten, zu denen sie nicht mehr in der Lage sind, oder schlagen kategorisch Einladungen zu Geselligkeiten aus, um nicht in peinliche Situationen zu geraten. Auf diese Weise geht wertvolle Therapiezeit verloren. Denn Demenz ist eine chronisch fortschreitende, bislang unheilbare, neurodegenerative Erkrankung, bei der sich über die Jahre die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen hinsichtlich Therapie und Betreuung immer wieder ändern.

Ein wachsendes Problem

Aufgrund der steigenden Lebenserwartung wird sich die Anzahl der Demenzerkrankten von aktuell etwa 100.000 bis zum Jahr 2050 auf 270.000 erhöhen. Analog werden die jährlichen Gesundheits- und Pflegekosten von 1,7 Mrd. Euro im Jahr 2007 auf ca. 4,6 Mrd. im Jahr 2050 steigen. Demenzerkrankungen verursachen mit 22,2 % den größten Teil der Gesundheitskosten in der Versorgung der über 85-Jährigen. Im Vergleich dazu nehmen die durch Schlaganfall bedingten Kosten mit 6,6 % Platz zwei ein. Der Gehirngesundheit verdient also auch aus ökonomischen Gründen mehr Beachtung.

Wissenswert

Memory-Kliniken stellen im deutschsprachigen europäischen Raum bislang den vielversprechendsten Ansatz zur optimalen individuellen Versorgung der Patienten dar. 

Mehr dazu unter: www.memory-clinic.at oder www.50plus.at

Verzögerungstaktik

Wie bei jeder Krankheit gilt auch bei Demenz: Je früher diagnostiziert wird, desto größer die Chance, die Krankheit aufzuhalten oder die Symptome in den Griff zu bekommen. Wenn sich die Gedächtnisleistung merklich eintrübt, sollte daher schnell der Hausarzt aufgesucht werden. Weil Alzheimer und die vaskuläre Demenz nicht reversible Krankheiten sind und sehr spät im Leben auftreten, kommt der Verzögerung des Krankheitsfortschrittes große Bedeutung zu. Für manche Personen kann das Aufhalten der Symptome so gut sein wie eine Heilung: Wird der Ausbruch der Demenz um fünf Jahre nach hinten verschoben, hat dies eine Halbierung der Inzidenzrate zur Folge - offensichtlich stirbt in den fünf Jahren die Hälfte der „Demenz-Zielgruppe“. 

« Frauen sind eher demenzgefährdet als Männer. »

Risikofaktoren wie genetische Veranlagung, Alter oder Geschlecht lassen sich nicht beeinflussen, andere schon: Sowohl klinische wie auch epidemiologische Daten weisen darauf hin, dass eine Modifikation des Lebensstils einschließlich der Ernährung bedeutend für das Risiko und Management sind. Eine wesentliche Rolle für das relative Risiko für Demenz scheint die Kalorienaufnahme zu spielen: Während eine Kalorienrestriktion offenbar einen schützenden Effekt hat, fördert eine hohe, auf gesättigten Fettsäuren basierende, Energiezufuhr die Entwicklung: (Unbehandelter) Bluthochdruck oder erhöhtes LDL-Cholesterin steuern zum „Abschalten“ der Gehirnfunktion bei, weil sie artherosklerotische Prozesse fördern. Epidemiologische Studien zeigen zudem, dass Adipositas und Diabetes mit einem mehr als vierfach erhöhten Risiko für die Entwicklung einer Demenz einhergehen. Der Gehirnfunktion förderlich hingegen sind lebenslang geistige Herausforderungen, soziale Kontakte und viel Bewegung.

« Bei über 75-Jährigen ist ein Gewichtsverlust, ob freiwillig oder nicht,
immer ein Alarmsignal.
»

Malnutrition: ein Frühsymptom

Obwohl also eine reduzierte Energiezufuhr einerseits Demenz vorbeugen kann, ist andererseits ein häufiges Symptom der Demenz ein progressiver Gewichtsverlust. Schon früh im Verlauf dementieller Erkrankungen verlieren die meisten Betroffenen unbeabsichtigt an Gewicht. In einigen Longitudinalstudien fand sich bereits mehrere  Jahre vor Auftreten von messbaren kognitiven Defiziten ein signifikanter Gewichtsverlust. Die Ursachen des meist bereits vor Diagnose der Erkrankung einsetzenden Gewichtsverlusts sind jedoch bisher nur unzureichend belegt.

Nach Auftreten der kognitiven Defizite verlieren Demenzpatienten etwa vier Mal soviel Körpergewicht wie gleichaltrige Patienten ohne Demenz. Angenommen wird, dass dies auf die verminderte Fähigkeit, sich selbst zu ernähren (Einkauf, Zubereitung, Essen) zurückzuführen ist. Die geringere  Nahrungsaufnahme kann auch bedingt sein durch Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, Probleme beim Schlucken und die sedierend wirkende pharmakologische Therapien. Zudem kann ein erhöhter Energiebedarf aufgrund chronischer Entzündung, psychomotorischer Unruhe oder Sekundärerkrankungen zu einem stetigen Gewichtsverlust führen.

Wissenswert

Protein-Energiemangelernährung verschlechtert den allgemeinen Gesundheitszustand, schwächt das Immunsystem, bedingt postoperative Komplikationen und längere Krankenhausaufenthalte. Ein Gewichtsverlust kann auch über den Abbau von Muskelmasse und -kraft zu erheblichen funktionellen Einbußen führen. Daher sollte im Alter ein wichtiger Fokus auf der Therapie von Mangelernährung liegen.

Die Katze beißt sich in den Schwanz

Glukosekonzentrationen beeinflussen das Gehirn und die kognitive Funktion immens. Im Gehirn beeinflusst Glukose den neuralen Metabolismus, die neurale Aktivität sowie der Neurotransmittersynthese. Bei älteren Personen wurde nach einer Glukoseaufnahme von 50 g eine Verbesserung der kognitiven Funktion, vor allem bei kontextabhängiger verbaler Information, festgestellt. Der Demenz folgt also nicht nur ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust, sondern auch umgekehrt: Mit sinkendem BMI nimmt auch der MMSE-Score ab – die Demenz wird also begünstigt von einem niedrigem Körpergewicht.

Wissenswert

Alzheimer-Demenz: mit 55–70 % der Fälle die häufigste Form;

Pathogenese: Pathologische Ablagerungen, senile Plaques, verminderte Neurotransmittersynthese.

Vaskuläre Demenz: 10–15 % der Fälle; Pathogenese: atherosklerotische Prozesse.

Screening auf Ernährungszustand

Entscheidend für eine effektive Prävention und Therapie der Mangelernährung und ihrer ungünstigen Auswirkungen ist daher ein frühzeitiges und regelmäßiges Screening des Ernährungszustands. Schließlich verteilt sich laut einem Literaturreview aus 2006 Mangelernährung bzw. ein erhöhtes Risiko für Mangelernährung unter älteren Personen wie folgt: 2 % bzw. 24 % der allgemein gesunden Älteren, 9 % bzw. 45 % der noch zuhause lebenden, aber  häuslich/ambulant gepflegten Personen, 15 % bzw. 44 % der zuhause lebenden Alzheimer-Patienten, 23 % bzw. 46 % der hospitalisierten Patienten und 21 % bzw. 51 % der in Heimen lebenden Personen. Als leicht durchzuführendes Screening-Tool hat sich das Mini Nutritional Assessment durchgesetzt. Zu Beginn geben sechs Fragen eine erste Einschätzung: Wie sieht es aus mit dem Appetit? Mit dem Gewichtsverlust in den letzten drei Monaten? Mit der Beweglichkeit? Mit akuten Krankeiten? Mit der psychischen Verfassung? Und dem BMI? Zeigt der erste Summenscore die Gefahr auf Mangelernährung an, wird weiter genauer nach Medikamenteneinnahme, Ess- und Trinkgewohnheiten gefragt sowie der Waden- und Oberarmumfang bestimmt.

Therapeutische Herausforderung

Einige Studien belegten, dass sich die ungünstigen Auswirkungen der Mangelernährung durch eine adäquate Ernährungstherapie zum Teil abwehren lassen. Auch bei Demenzpatienten ließ sich nachweisen, dass der Gewichtsverlust durch möglichst früh einsetzende, adäquate Therapiemaßnahmen verhindert werden kann: Die sinnvollen Strategien reichen von einer Ernährungsberatung an den Patienten, individuell adaptiertem Speisenangebot über die ernährungsspezifische Schulung der Angehörigen, einer stimmungsvolleren Umgebung beim Essen bis zur Unterstützung bei der Nahrungsaufnahme sowie dem Anbieten von Zwischenmahlzeiten, energiedichter Lebensmittel und der Anwendung von Trinksupplementen. Von all diesen Maßnahmen ist bisher die Gabe von Trinksupplementen am besten untersucht: drei Monate täglich ein Trinksupplement erhöhte das Körpergewicht deutlich. Demgegenüber wird die enterale Ernährung über eine PEG-Sonde, insbesondere bei fortgeschrittener Demenz, kontrovers beurteilt. Retrospektivanalysen belegten keinen Einfluss auf die Mortalität. Ebenso sind prospektive  randomisierte Studien zur enteralen Ernährung über eine PEG-Sonde bei Demenz nicht verfügbar. Bestehende Leitlinien, wie die „ESPEN Guidelines on Enterel Nutrition: Geriatrics“, mahnen daher zur Zurückhaltung.

Mangel im Überfluss

Als ein häufiges Syndrom (23 %), vor allem im mittleren Stadium der Demenz wurde aber auch Überessen erkannt. Wobei der signifikant über dem Energiebedarf liegenden Energieaufnahme Mängel an Omega-3-Fettsäuren und Antioxidantien gegenüber stehen. Das Defizit an Antioxidantien kann durch vermehrten oxidativen Stress das Fortschreiten der Demenz beschleunigen, das an Omega-3-Fettsäuren chronische Entzündungen, Aggregation der Blutplättchen oder ungünstige Veränderungen der Gefäßwand und eine verminderte Merkfähigkeit bedingen. Eine pflanzenbetonte Mischkost mit regelmäßigem Fischkonsum und/oder genügender Zufuhr an Omega-3-FS-reichen Pflanzenölen (Rapsöl, Leinöl,...) erhöht also auch die Chance, geistig fit zu altern.

Fazit

Weil Mangelernährung nicht nur funktionelle Beeinträchtigungen nach sich zieht, sondern auch Symptom für eine einsetzende Demenz ist sowie das Fortschreiten der Demenz fördert, spielt der Ernährungsstatus in der Prävention und Therapie der Erkrankung eine große Rolle. Durch eine frühzeitige und adäquate Ernährungstherapie lassen sich die ungünstigen Auswirkungen der Mangelernährung vermeiden. Ein Screening auf den Ernährungsstatus ist im Alter und v.a. bei Demenz-Patienten ein kostengünstiges und effizientes Tool zur Verbesserung des Gesundheitszustandes.

Mehr zum Thema:

Österreichische Alzheimergesellschaft: www.alzheimergesellschaft.at
Deutsche Alzheimer Gesellschaft e.V.: www.deutsche-alzheimer.de
MNA-Fragenbogen:
www.mna-elderly.com

Literatur

Wirth R: Demenz und Malnutrition – vom Frühsymptom zur therapeutischen Herausforderung. Referat bei der XII. Dreiländertagung 2008. Geniessen und trotzdem gesund essen – und das ein Leben lang (vom 5./6 September 2008).
Pasinetti GM et al.: Caloric intake and Alzheimer’s disease.
Experimental approaches and therapeutic implications. Interdiscip Top Gerontol 35: 159–175 (2007).
Guigoz Y: The Mini Nutritional Assessment (MNA) review of the literature – What does it tell us?
J Nutr Health Aging 10 (6): 466–485 (2006).
WGKK: Pressekonferenz “Erster Österreichischer Demenzbericht”. 21. April 2009.

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