14.03.2007 von Dr. Marlies Gruber

„Wer sich bewegt, dem fällt das Denken leichter!“

Bewegung und geistige Fähigkeiten sind eng aneinander gekoppelt. Stellen Sie sich vor: Ein langes Telefonat mit einem Geschäftspartner – was tun Sie? Auf dem Notizblock zeichnen, auf und ab gehen? Ja? Dann reagiert Ihr Körper goldrichtig, um die nachlassende Konzentration durch Bewegung wieder in Schwung zu bringen und aufrechtzuerhalten.

Bewegtes Lernen – eine Conditio sine qua non in der menschlichen Entwicklung. Also eine Bedingung, ohne der es nicht geht. Bewegung aktiviert geistige Fähigkeiten. Bewegung integriert und verankert neue Informationen in das neuronale Netzwerk. Die kognitive Gehirnfunktion steigt an, die altersbedingten Rückbildungserscheinungen werden verhindert bzw. stark verzögert. Und: Bewegung ist Voraussetzung dafür, um unser Denken, unser Verständnis, unser Selbst durch Handeln auszudrücken. Mit Bewegung ist also nicht nur gesamtkörperliche Aktivität gemeint, Bewegung impliziert auch Schreiben, Sprechen, Begreifen.

Gedanken lassen sich nur festnageln, wenn etwas getan wird. Sie müssen durch Worte wirklich werden – ob durch das Schreiben – die Bewegung der Hand dabei – oder das Sprechen. Die körperliche Bewegung internalisiert und festigt den Gedanken in den neuronalen Netzwerken. Viele können freier denken, wenn sie gleichzeitig einer monotonen körperlichen Beschäftigung nachgehen, die wenig Konzentration erfordert: Gartenarbeit, Rasieren, Spazieren gehen, Laufen, Putzen, Stricken, Auto waschen. Erst 1994 wurde erkannt, dass zwei Gehirnregionen mehr als nur Muskelbewegungen steuern. Das Basalganglion und das Kleinhirn sind auch für die Koordination von Denken wichtig. Die zwei Bereiche sind mit den Stirnlappen verbunden, wo zukünftiges Handeln im logischen Ablauf und zeitlich passend geplant wird. Motorik und Konzentration scheinen also in engem Verhältnis zueinander zu stehen. Das Gehirn ist aber auch Sitz der Gefühle. Von hier aus wird der Hormonhaushalt ebenso gesteuert wie die Bewegung. Geistige Funktionen sind also an körperliche und seelische gekoppelt. Deshalb ist es notwendig, Lernende ganzheitlich anzusprechen und alle Möglichkeiten zu nutzen. Vor allem gilt es den Bewegungsmangel in der Freizeit auszugleichen und über Bewegung das Gehirn immer wieder neu zu aktivieren und leistungsfähig zu machen.

Regionale Durchblutung verbessert

Eine Untersuchung mit dem Fahrradergometer ergab, dass bei einer Leistung von 25 bis 100 Watt deutliche regionale Durchblutungssteigerungen von örtlich unterschiedlicher Intensität zu verzeichnen sind. Die erhöhte Hirndurchblutung hat die Aufgabe, vermehrt gebildete biochemische Substanzen so kompakt und schnell wie möglich an periphere Zielorte zu transportieren. So wurde bei laufenden Ratten beobachtet, dass der insulinähnliche Wachstumsfaktor (IGF-1) in den vermehrt durchbluteten Regionen verstärkt durch Neurone aufgenommen wird. Die Neurone vergrößern spontan ihre elektrische Aktivität und die Sensitivität für afferente Stimuli. So ist das neuronale c-Fos im Zellkern bereits nach 30 min nach Laufbeginn vermehrt. C-Fos ist ein Transkriptionsfaktor und dürfte an der Informationsspeicherung beteiligt sein sowie an der Fixierung von Verhaltensengrammen im Frontallappen. Das vermehrt aufgenommene IGF-1 vermittelt offenbar Aktivierungseffekte und verhilft so zu neuroprotektiven Strategien. Wenige Tage nach der Laufbandbelastung nimmt bei Ratten der gehirnbezogene neutrophe Faktor (BDNF) und seine mRNA deutlich zu. BDNF und mRNA sind plastische Strukturen, die mehr mit kognitiver Funktion als mit motorischen Aktivitäten verbunden sind. Hohe BDNF-Spiegel im Gehirn sind eine Voraussetzung für den Erhalt der neuronalen Funktionen und für die Langlebigkeit. Die vermehrte IGF-1-Aufnahme hat eine Neubildung von Neuronen zur Folge. Körperliche Bewegung ist für diese Neubildung der stärkste Stimulus. In Summe zeigten trainierte Tiere ein verbessertes Lernvermögen und eine vergrößerte Widerstandsfähigkeit gegenüber Durchblutungsstörungen als untrainierte.  Körperliche Bewegung stärkt neuronale Verbindungen, ihre Wirksamkeit durch vergrößerte synaptische Kapazität und die Neubildung von Neuronen.

Das Tor zum Lernen

Körperliche Aktivität ist für das Gehirn ebenso bedeutsam wie für das Herz-Kreislaufsystem. Gesichert ist, dass körperliches Training die Gehirnvaskulisierung verbessert, die Spineproduktion, die Synapsenbildung und Neurogenese fördert, die Widerstandsfähigkeit von Neuronen erhöht und kognitive Funktionen verbessert.
Die Folgen davon:

  • Verstärkte Konzentrationsfähigkeit
  • Verbesserte Wahrnehmung
  • Verbessertes Kurzzeitgedächtnis
  • Anregung der Sinne
  • Erleichtertes „Begreifen“ eines Lernstoffes
  • Beruhigung bei Stress und Verhinderung von Denkblockaden
  • Anregung bei Müdigkeit
  • Förderung der Zusammenarbeit beider Hirnhälften
  • Verstärke Arbeit der rechten Hirnhälfte (bei Rechtshändern)
  • Förderung kreativen Denkens, Verbesserte Problemlösefähigkeiten
  • Erschließung eines zusätzlichen Informationszuganges
  • Schnellere Informationsverarbeitung (schneller erkennen und schneller reagieren)
  • Förderung vernetzten Denkens und Handelns
  • Förderung der emotionalen Intelligenz
  • Reduzierte Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von kognitiven Störungen und Demenz

Wissenswert

Spines sind für das Kurzzeitgedächtnis zuständig. Synapsen sind die Verbindungen zwischen den Gehirnzellen.

Warum ist Bewegung wichtiger denn je?

Die Gehirne der Menschen, die nach 1965 geboren wurden, unterscheiden sich wesentlich von den Gehirnen der vorhergehenden Generationen. Das belegt die Hirnforschung. Warum ist dem so? Die Umweltbedingungen haben sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts stark verändert. Die Reize, die auf das (kindliche) Gehirn einströmen werden mehr und intensiver. Früher haben Kinder ihre Freizeit überwiegend (draußen) spielend, lesend oder in Haus und Hof helfend verbracht. Das heißt, sie haben sich viel bewegt. Heute sind sie der omnipräsenten Reizüberflutung durch Fernsehen, Computerspiele, Internet ausgesetzt. Auf Einflüsse von außen reagiert das Gehirn sensibel. Einerseits führen intensive Reize zu höherer Gehirnaktivität, zu Synapsenbildung und damit zu neuen Denk- und Verhaltensmustern. Andererseits ziehen sie auch eine höhere Reizschwelle nach sich – damit auch in Verbindung mit Bewegungsmangel und zu wenig Entspannung – zu Lern- und Konzentrationsschwierigkeiten. Unkonzentriert, unmotiviert, aggressiv, destruktiv - die von Lehrern , Eltern und Kindern selbst beklagten Symptome haben also mehrere Ursachen.

Wer sich nicht bewegt, bleibt sitzen

Etwa 87 % der Lehrer in Deutschland klagen über wachsende Konzentrationsschwächen, vermehrte Unruhe und Nervosität der Kinder. Die Folgen dieser Entwicklung machen sich schon bei einfachen Aufgabenstellungen im Schulalltag bemerkbar. Nur noch ein Teil der Kinder kann sich beim Vorlesen von Texten auf das Zuhören beschränken. „Bewegter Unterricht“ hilft, die Kinder auch geistig bei der Stange zu halten. Das Konzept wurde Anfang der 80er Jahre entwickelt, weil eine erschreckende Zunahme von Rückenbeschwerden bei Kindern und Jugendlichen beobachtet wurde. Doch für den „bewegten Unterricht“ sprechen mehrere Aspekte: Zum einen wird der natürliche Bewegungsdrang von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt. Zum anderen machen kurze Bewegungsphasen munter und steigern die Gehirntätigkeit. Schon ein Belastung von 20 – 25 Watt, wie sie etwa bei einem normalen Spaziergang erfolgt, führt zu einer Mehrdurchblutung des Gehirns von circa 14 % und damit auch zu einer gesteigerten Hirnfunktion, was wiederum zu erhöhter Lernfähigkeit führt.

Bewegte Schüler lernen leichter

Wamser und Leyk (2003) prüften die Effekte des „Bewegten Unterrichts“ im Vergleich zum „Klassischen Unterricht“ bezüglich der Konzentrations- und Aufmerksamkeitsleistungen. An den bewegten Unterrichtstagen wurde der Konzentrationstest 30 Sekunden nach einem 4 min dauerndem Aerobic-Programm durchgeführt. Die körperlichen Aktivitäten führten zu signifikant besseren Konzentrations- und Aufmerksamkeitsleistungen.
Im Rahmen des CHILT (Children Health International Trial)-Projektes wurde ebenfalls der Zusammenhang zwischen Bewegung und Kognition am Beispiel der Konzentrationsfähigkeit aufgezeigt. CHILT ist eine prospektive Interventionsstudie für Grundschulen, die sich auf die Kombination von Gesundheitsunterricht und mehr Bewegung fokussiert. Die Ergebnisse: Kinder mit erstklassiger kognitiver Leitung wiesen auch die beste Gesamtkörperkoordination auf. Mit der Ausdauerleistungsfähigkeit zeigte sich allerdings kein Zusammenhang. Interessant ist die Konzentrationsfähigkeit, weil sie eng mit anderen kognitiven Prozessen zusammenhängt. Kritisch zu hinterfragen bleibt jedoch bei dieser Untersuchung der Umkehrschluss: Könnte es doch sein, dass nicht die körperliche Aktivität die kognitiven Fähigkeiten beeinflusst, sondern vielmehr intelligentere Kinder mehr Sport betreiben und daher auch bessere Koordinationsfähigkeiten haben.

Die Forderung nach mehr Bewegung im Kindes- und Jugendalltag, z. B. im Schulltag und Sportunterricht muss unbedingt umgesetzt werden. Dies führt auch nicht zu einer Vernachlässigung der anderen Fächer, wie manche Lehrer und Eltern fürchten. So zeigte das SPARK-Projekt, dass zusätzlich zum Unterricht durchgeführte Bewegungen trotz geringerer Unterrichtszeit nicht zu einer Verschlechterung der schulischen Leistungen führen.

« Lernen ist Erfahrung. Alles andere ist einfach nur Information. »

Optimal in der 5. und 6. Stunde

Die Aufmerksamkeit ist aber im Tagesprofil Schwankungen unterworfen. So werden die besten Resultate in der dritten und vierten Stunde erzielt. In den ersten beiden Stunden und am Ende des Schultages sind die Leistungen verhältnismäßig gering. Ein bewegter Unterricht bietet sich also grundsätzlich für die Schulstunden mit geringen Konzentrationsleistungen an. Für die Schulpraxis ist aber auch interessant, dass SchülerInnen nach körperlicher Aktivität den Unterricht weitaus weniger stören als unbewegte Kinder. Der "bewegte Unterricht" scheint also auch das Unterrichtsklima zu verbessern.

Fazit

Der frühzeitige Beginn von körperlicher Aktivität legt den Grundstein für lebenslanges regelmäßiges Sporttreiben und damit auch für ein positives Selbstkonzept. Wechselwirkungen zwischen Motorik und Wahrnehmung, kognitiven, emotionalen und sozialen Komponenten bestimmen den Prozess der gesamten Entwicklung eines Menschen. Denn nur wer sich rührt, kann auch geistig etwas bewegen. Und das gilt in jedem Lebensalter.

Literatur

Hollmann W, Strüder HK, Tagarakis CVM: Körperliche Aktivität fördert Gehirngesundheit und –leistungsfähigkeit. Nervenheilkunde 9: 467–474 (2003).

Graf C, Koch B, Dordel S: Körperliche Aktivität und Konzentration – gibt es Zusammenhänge? Sportunterricht, Schorndorf 52 (5): 142–146 (2003).

Wamser P, Leyk D: Einfluss von Sport und Bewegung auf Konzentration und Aufmerksamkeit: Effekte eines “Bewegten Unterrichts” im Schulalltag. Sportunterricht, Schorndorf 52 (4): 108–113 (2003).

Dordel S, Breithecker D: Bewegte Schule als Chance einer Förderung der Lern- und Leistungsfähigkeit. Haltung und Bewegung 23: 5–9 (2003).

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