Freiheit oder Fremdbestimmung: Wie privat ist Essen?

3. f.eh-SymposiumFreiheit oder Fremdbestimmung:
Wie privat ist Essen?

Rückblick

Tagungsrückblick

"Was, wann und wie ich esse und trinke geht niemanden etwas an! Das ist meine Privatsache!" Bestimmen wir selbst, wie wir uns ernähren? Wer lenkt unser Verhalten - und vor allem: wie? Politik? Gesellschaft? Traditionelle Vorstellungen? Wissenschaftliche Empfehlungen? Umwelt? Angebot? Das Streben nach Gesundheit? Sind wir mündige Bürger und in der Lage eigenverantwortlich zu handeln? Das forum. ernährung heute (f.eh) veranstaltete am 14. Juni 2012 ein Symposium, das all diesen Fragen nachging. Namhafte Redner aus verschiedenen Disziplinen diskutierten das aktuelle, spannende aber auch kontroverse Thema mit rund 140 Teilnehmern.

Peter Reinecke, Präsident des f.eh, eröffnete das Symposium und skizzierte das Spannungsfeld zwischen Gesundheit, Ernährungsverständnis und Lebens(mittel)zugang. Das Streben nach Gesundheit kompensiert fehlende Moral und Tradition, ja eine innere Glaubensleere, sagt der Schriftsteller Walter Wippersberg und erläuterte, wie das höchste Gut des Menschen zur Ersatzreligion geworden ist. Denn heute wird der Mensch in der Ordination des Arztes so wahrgenommen wie früher im Beichtstuhl. Doch während "Sünder" in der Kirche von der Schuld entbunden werden, verweisen Ärzte auf eigenverantwortliches Handeln.  Wippersberg zufolge leidet die Freude am Leben unter dem Gesundheitsdiktat der Gesellschaft, unter dem "eigentlich sollte ich...".  

Petra Lehner (Bundesministerium für Gesundheit) sah in der suboptimalen Ernährungssituation der österreichischen Bevölkerung sehr wohl einen Handlungsauftrag für die Gesundheitspolitik. Mit dem Nationalen Aktionsplan Ernährung (NAP.e) sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung getan. Essen und Trinken aus gesundheitlichen Überlegungen anzugehen, ist jedoch nur eine Sichtweise unter vielen. Drei weitere konträre Ansätze wurden in Kurzvorträgen vorgestellt.

"Mein Bauch gehört mir! Nur mir!"

Die gelernte Köchin und Magazinjournalistin Katharina Seiser präsentierte ihre Sicht der Dinge und  vermittelte eindringlich, dass der Weg zu gutem Essen durch die Küchentüre geht und verstaubte Ernährungspyramiden nicht das Maß aller Dinge seien. Denn wer seinen Geschmack schult und sich seine "kulinarische Bibliothek im Kopf" aufbaut, kann bewusst und genussvoll konsumieren. Sie spricht sich für mehr Eigenverantwortung und mehr Achtsamkeit im Umgang mit unserer Nahrung aus und forderte deshalb Kochen - nicht Ernährungslehre! - als verpflichtendes Schulfach sowie eine Kennzeichnungspflicht für offene Waren. Nebenher begeisterte sie das Publikum mit einem Gustostückerl aus ihrer lukullischen Welt: selbsgebackenem Shortbread (Rezept auf www.esskultur.at/).

Dass das eigene Essverhalten auch weitreichende Auswirkungen haben kann, zeigten die Ausführungen zum lebensmittel-bezogenen CO2-Fußabdruck. Die Gesellschaft benötigt einen ökologischen kategorischen Imperativ, so der Umweltaktivist Wolfgang Pekny. Denn die Erde ist kein unerschöpflicher Selbstbedienungsladen. Um Ethik ging es auch in den Erläuterungen von  Felix Hnat, Geschäftsführer der Veganen Gesellschaft Österreichs.  Die Motivation für den Verzicht auf die Nutzung von Tieren und deren Produkte folgt eben nicht nur gesundheitlichen, sondern klimaschützenden und ethisch-tiergerechten Aspekten. Essen - eine individuelle Angelegenheit? Keineswegs!

"Was wir essen, hat immer mit Politik zu tun"

Auch die Historikerin Matina Kaller von der Universität Wien erläuterte, warum Essen aus kulturwissenschaftlicher Sicht nicht individuell ist.  "(...)Wenn unsere Nahrung ein Ausdruck der Landschaft ist, in der wir leben, also der jeweiligen Region, dann folgt daraus, dass Essen auch etwas mit Staat und Nation zu tun hat." Sie ortet beim Miteinander generell das Reziprozitätsprinzip, also eine Form der Austauschbeziehungen. Entscheidungen über Essen werden daher immer im Kollektiv getroffen. Waren früher jedoch nur die Familie in die Ess-Entscheidungen eingebunden, so hat sich heutzutage der Radius stark erweitert.

Für die Ärztin und Public Health-Expertin Ursula Püringer hängt der persönliche Speiseplan "weniger von gesundheitlicher Aufklärung ab, als vielmehr davon, wieviel eine gesunde Lebensmittelauswahl kostet und wie zugänglich sie ist." Sich gesund ernähren zu können,  ist daher für sie vor allem ein Handlungsfeld für die Politik: Die Stärkung der Selbstverantwortung bildet dabei ebenso einen Teil wie die Lenkung durch Preise und Subventionen. Doch die Politik darf nur die Rahmenbedingungen schaffen, damit persönliche Freiheit gelebt werden kann.

Mündige Entscheidungsfreiheit

"Habe ich als erwachsener Staatsbürger das Recht, mich mit Messer und Gabel fehlzuernähren, am Ende sogar umzubringen? Hat der Staat das Recht, mich zu meinem gesundheitlichen Wohl als zwangszuernährenden Delinquenten zu behandeln?" Klaus Kocks, Sozialwissenschafter und Philosoph aus Deutschland, ruft zur Erziehung zur Selbstverantwortung auf. "(...) Wir müssen lernen, mit unserer Freiheit maßvoll umzugehen." Und auf das drängende gesellschaftliche Problem der Fettleibigkeit bezogen: "Adipositas ist eine soziale Frage. Dieser Verantwortung müssen wir politisch und sozial in ihrer ganzen Komplexität gerecht werden. ... Wir brauchen mehr Bildung, mehr Bildungschancen insbesondere dort, wo gefressen statt gedacht, gesoffen statt geliebt und gelebt wird". Auch Jürgen König, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates des f.eh, betont in seinem Abschlussstatement, dass es vor allem darauf ankommt, Wege zu finden, die unsere Gesellschaft mündig und erwachsen werden lässt und somit nicht vor sich selbst geschützt werden muss.

Programm

Programm als pdf

08.30-09.00 Uhr

Registrierung

09.00-09.15 Uhr

Begrüßung


Peter Reinecke,
Präsident des f.eh

09.15-10.00 Uhr

Die Gesundheitsgesellschaft


Walter Wippersberg
, Schriftsteller, Wien

Gesundheit um der Gesundheit willen war bisher nie ein Ziel.
Ihre Verabsolutierung ist ein Phänomen unserer Zeit und
das Streben nach ihr nimmt religiöse Dimensionen an. Wird
zum Außenseiter, wer ihre Dogmen kritisch sieht?

10.00-10.45 Uhr

Essfundamentalismen


Martina Kaller,
Universität Wien

Denken an Essen und nach dem Denken Essen. Und nach
dem Essen Nachdenken. In vier Akten: Was heißt privat in
einer liberalen Gesellschaft?

10.45-11.00 Uhr

Diskussion

11.00-11.30 Uhr

Kaffeepause

11.30-12.30 Uhr

Perspektivenwechsel: Wie sollen wir essen?


gesund:
Petra Lehner, BMG, Wien
hedonistisch:
Katharina Seiser, esskultur.at, Wien
ökologisch: Wolfgang Pekny, Plattform Footprint, Wien
vegan:
Felix Hnat, Vegane Gesellschaft Österreichs, Wien

12.30-13.30 Uhr

Mittagspause

13.30-14.10 Uhr

Politische Instrumentarien und
Lenkungseffekte im Visier


Ursula Püringer, HealthCare Pueringer, Graz


Soziale und wirtschaftliche Verhältnisse bewirken ein
Ernährungsgefälle, das zu gesundheitlichen Ungleichheiten
beiträgt. Gesunde Ernährung steht damit nicht nur im
Kontext individuellen Verhaltens, sondern bildet ein
politisches Handlungsfeld.

14.10-14.50 Uhr

Warum man seine Pflicht nicht gerne
tun kann


Klaus Kocks, Cato Sozietät, Horbach/Westerwald

Eine praktische Philosophie des aufgeklärten Menschen, der
die Dinge um ihrer selbst Willen tut und ein freier Mensch ist,
einschließlich des Rechtes, nicht zu seinem eigenen Wohl
zwangsernährt zu werden.

14.50-15.00 Uhr

Diskussion

15.00-15.30 Uhr

Kaffeepause

15.30-16.00 Uhr

Körperarchitektur:
Gesellschaftliche Wünsche vs.
biologische Realitäten


Udo Pollmer, Gemmingen

Anmerkung: krankheitsbedingt ausgefallen, Abstract siehe
Tagungsunterlagen

16.00-16.50 Uhr

Podiumsdiskussion


Moderation: Natasa Konopitzky (ö1)

16.50-17.00 Uhr

 Zusammenfassung und Abschlussstatement


Jürgen König, Department of Nutritional Sciences,
Universität Wien

Unterlagen

Die Gesundheitsgesellschaft

Walter Wippersberg, Schriftsteller, Wien
Redemanuskript


Essfundamentalismen
 

Univ.-Prof. Dr. Martina Kaller, Universität Wien
Abstract
                        

Perspektivenwechsel: Wie sollen wir essen? ... gesund

Mag. Petra Lehner, Bundesministerium für Gesundheit, Wien
Präsentation
                       

Perspektivenwechsel: Wie sollen wir essen? ... ökologisch

Dr. Wolfgang Pekny, Plattform Footprint, Wien
Präsentation
                     

Perspektivenwechsel: Wie sollen wir essen? ... vegan

Mag. Felix Hnat, Vegane Gesellschaft Österreich
Präsentation


Politische Instrumentarien und
Lenkungseffekte im Visier

Dr. Ursula Püringer, HealthCare Pueringer, Graz
Abstract
        


Warum man seine Pflicht nicht gerne tun kann

Prof. Dr. Klaus Kocks, Cato Sozietät, Horbach/Westerwald
Redemanuskript


Körperarchitektur: Gesellschaftliche Wünsche vs. biologische Realitäten

Dr. Udo Pollmer, EU.L.E. e. V., Gemmingen
Abstract

Aus dem Medienecho
Die Presse 17. Juni 2012

„Individuelle Ernährung gibt es nicht. Die Entscheidung, was wir essen, wird immer im Kollektiv getroffen."

[Martina Kaller]

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DAS MAGAZIN

ernährung heute 1_2020

Während der Ruf nach Tierwohl und Nachhaltigkeit lauter wird, wird die Kluft zwischen Wunsch und individuellem Kaufverhalten größer.  Denn wenn es um die CO2-Emissionen geht, wird es komplex: Bilanzierungsmodellen und Datengrundlagen.

Foto: f.eh
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