06.10.2020

Ist Ernährung einfach zu komplex? – f.eh fördert mit Symposium Diskurs und Lösungsfindung

Das forum. ernährung heute diskutierte mit Experten Komplexität im Ernährungssystem: Es braucht Ernährungs- und Medienbildung sowie transparente Information für adäquaten Umgang mit Risiken.

Beim virtuellen Symposium des forum. ernährung heute (f.eh) am 1. und 2. Oktober 2020 identifizierten namhafte Experten Herausforderungen im Umgang mit Komplexität. Zum Thema „Einfach zu komplex? Vom Charme simpler Lösungen und unbewussten Folgen des Essens“ erörterten die Diskutanten aber auch mögliche Lösungen. Mit dem Symposium fördert das f.eh einen wissenschaftsbasierten, ausgewogenen und transparenten sowie insbesondere lösungsorientierten Diskurs. „Unsere Aufgabenstellung als f.eh ist, zu forschen, Wissen zu ergründen und dieses transparent und verständlich zu machen. Wir wollen dazu beitragen, dass es zu einer Ernährungsbildung kommt, um die Eigenverantwortung zu stärken und vernünftige und nachhaltige Entscheidungen beim Essen ermöglichen zu können“, so der Präsident des f.eh, Peter Reinecke. „Das ist auch mein Wunsch an die Politik: Eigenverantwortung ermöglichen, respektieren und akzeptieren.“

Marlies Gruber, Geschäftsführerin des f.eh, betont, dass „die Bildung weit über einzelne Nähr- und Inhaltsstoffe hinausgehen und eine globale Perspektive erschließen muss. Beim Essen, dessen Zubereitung oder Auswahl geht es nicht nur um Wissen und Können. Auch soziale, ökologische und ökonomische Aspekte sowie Kultur und Gesundheit sind Faktoren, die zusammenspielen und zu berücksichtigen sind. Daher sind auch Normen und Werte zu reflektieren und vermutlich neu zu kalibrieren. Das ist ein langsamer Prozess, der einen Diskurs braucht.“ Wichtig ist auch eine Abkehr von einfachen Antworten, denn „sie verleiten häufig dazu, dass Menschen ihr Verhalten ändern – aber die einfachen Antworten stimmen eben oft nicht und so erzielt auch die Verhaltensänderung keinen oder zumindest nicht den gewünschten Effekt“, so Gruber.

Bio-psycho-soziales System Mensch

Für Komplexität benötigt ein System mehr als zwei Variablen, verstärkendes und hemmendes Feedback, Nichtlinearität und einen Energieaustausch. Menschen sind demnach komplexe Systeme und deren Ernährung ebenso. Es ist daher ein Artefakt der modernen Wissenschaften, zu glauben, dass Komplexität verschwinden kann, sagt Guido Strunk vom Forschungsinstitut Complexity Research. Die klassischen Naturwissenschaften, so Strunk, haben mit der Erfindung des Experiments Komplexität a priori ausgeschlossen, da hier nur eine Größe variiert wird und alle anderen konstant gehalten oder statistisch kontrolliert werden. Dieses Forschungsmodell schließt Komplexität auch in der medizinischen Forschung (z.B. RCT) aus. Das relative Risiko für z.B. Diabetes bei Übergewicht erlaubt eine übergeordnete Risikoabschätzung, ist aber zu grob, um der Komplexität des einzelnen Menschen gerecht zu werden. Strunk plädiert daher für die individuelle Einschätzung und Bewertung von Risiken, die auf einer mehrdimensionalen Perspektive beruhen, welche biologische Aspekte gegen psychologischen Genuss und soziales Erleben gleichermaßen berücksichtigt. Er erteilt dem Ursache-Wirkungs-Modell dementsprechend eine Absage.

Neue Wertekonstrukte

Schließlich weisen zahlreiche Befunde Komplexität als Zeichen für Gesundheit aus. Menschliche Risikobewertungen berücksichtigen mehrere Dimensionen, in sie gehen Emotionen, Erkenntnisse und Verhalten ein. Und auch psychische Prozesse sind komplex, denn soziale Systeme konfrontieren Menschen mit dem Risiko, nicht dazuzugehören, etwa beim Verzicht auf Alkohol. Auch Philosoph Robert Pfaller von der Kunstuniversität Linz und der Diözesanbischof von St. Pölten, Alois Schwarz, sehen in der Komplexität das zentrale Geheimnis von Gesundheit und Lebensfreude. Beim Versuch, der Komplexität zu entkommen, schaffen sich Menschen Wertekonstruktionen, die für ein subjektives Sicherheitsgefühl sorgen.

Foodtrends als neue Religionen?

Solche Wertekonstruktionen waren lange Zeit in Religionen zu finden. Weil ein großer Teil der Gesellschaft heutzutage aber die Chance hat, befreit von Mangel, Traditionen und ökonomischen Zwängen über seine Ernährungsweise selbst zu entscheiden, treten zunehmend Foodtrends an die Stelle von gesellschaftlichen Normen und wissenschaftlichen Ernährungsempfehlungen. Denn die Unsicherheit durch diese neue Freiheit und Wahl führt zur Sehnsucht nach neuen Orientierungsgrößen. Foodtrends bilden also zunehmend neue Identifikationsangebote, die helfen, Essentscheidungen zu erleichtern aber auch ein neues Selbstbild zu schaffen und auszuprobieren. Dabei warnen die Experten allerdings vor allzu einfachen Lösungen und nennen als Beispiel Heilsversprechungen von Einzelpersonen. Denn mit der zunehmenden Komplexität können Menschen nur mit wissenschaftlichen Methoden und nur innerhalb von Gruppen und gemeinsam zurande kommen. Wenn also eine Einzelperson sagt, sie hätte ein Problem gelöst, müssen die Warnlampen angehen. Auch bei digitalen Angeboten raten die Experten zu Vorsicht, da die ständige Verfügbarkeit von Information dazu führt, dass diese gesucht, nicht hinterfragt und anschließend bequeme Entscheidungen getroffen werden, die in der Regel jedoch weniger lebensfördernd sind.

Fehlende Vorhersehbarkeit, daher: Fahren auf Sicht

Wesentlich beim Umgang mit Komplexität ist vielmehr, die fehlende Vorhersagbarkeit zu akzeptieren, sich anzupassen und auf Sicht zu fahren. Denn bei komplexen Systemen lassen sich weder Detailprognosen erstellen, noch sind sie gezielt zu steuern. Das trifft auch auf Maßnahmen zur Lenkung des Essverhaltens zu. Als Beispiel wurde Labeling in punkto Nährwerte, Klima oder Tierwohl diskutiert. Zwar können durch gesteigerte Transparenz möglicherweise Entscheidungen erleichtert werden, ob sich jedoch das Essverhalten ändert, lässt sich nicht vorhersagen. Rolf Jucker, Geschäftsleiter der Stiftung SILVIVA, warnte beim Labeling zudem vor einer drohenden Entmündigung der Konsumenten. Viel eher sollte damit erreicht werden, dass die Menschen selbständig komplexe Entscheidungsprozesse durchspielen. Es geht demnach um eine kritische Reflexion und die verlangt eine entsprechende Medienkompetenz. Dazu müssten die Bildungsprozesse derart gefördert werden, dass Kinder und Erwachsene Verabsolutierungsversuche durchschauen und erkennen, dass diese nicht der Realität entsprechen.

Gefordert: Ernährungs- und Medienkompetenz

Um mit einer steigenden Komplexität umgehen zu lernen, braucht es gesamtgesellschaftliche Bemühungen. Lösungen im Bereich der Ernährung liegen bei einer umfassenden, lebenslangen Ernährungsbildung. Claudia Angele von der Universität Wien warnte in diesem Zusammenhang vor Tendenzen zu Simplifizierungen im schulischen Kontext. Schüler müssen vielmehr unterstützt werden, den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen fachlichen Grundannahmen und moralischen Positionen zu verstehen sowie selbst Positionen entwickeln und argumentieren zu können. Es geht um das Ziel, eine wissensbasierte Urteilskompetenz für eine reflektierte und verantwortungsvolle Alltagsbewältigung und Lebensführung auszubilden. Dabei hat sich die Methode der Dilemma-Diskussion als probates Mittel erwiesen. Beatrice Dernbach von der TH Nürnberg forderte zudem eine umfassende Medienbildung, damit Rezipienten Berichterstattung verstehen und einordnen können. Sie appelliert zudem an Wissenschaftler, moderne Kanäle und soziale Medien zu nutzen, um das Public Understanding of Science zu fördern.

Als Referenten und Diskutanten waren geladen:

Robert Pfaller, Kunstuniversität Linz; Bischof Alois Schwarz, Diözese St. Pölten; Claudia Angele, Universität Wien; Hanni Rützler, futurefoodstudio; Rolf Jucker, Stiftung SILVIVA; Florian Arendt, Universität Wien; Guido Strunk, Complexity-Research e.U. Wien; Beatrice Dernbach, TH Nürnberg; Nanette-Ströbele-Benschop, Universität Hohenheim

Moderiert wurde die Veranstaltung vom Lebensmittelchemiker und Gründer des Beratungsunternehmens sraConsulting, Andreas Kadi.

Bilder in Downloadbereich (Credits: Sperr/f.eh)

Bild 1 (v.l.n.r.): Robert Pfaller (Kunstuniversität Linz), f.eh-Präsident Peter Reinecke, Hanni Rützler (futurefoodstudio), Moderator Andreas Kadi (sraConsulting), f.eh-Geschäftsführerin Marlies Gruber, Diözesanbischof Alois Schwarz.

Bild 2 (v.l.n.r.): Robert Pfaller (Kunstuniversität Linz), Hanni Rützler (futurefoodstudio), Moderator Andreas Kadi (sraConsulting), Diözesanbischof Alois Schwarz.

Bild 3 (v.ln.r.): f.eh-Präsident Peter Reinecke, f.eh-Geschäftsführerin Marlies Gruber, Moderator Andreas Kadi (sraConsulting), Florian Arendt (Universität Wien).

Das Programm und weitere Referenteninformationen finden Sie direkt beim Event.

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