13.09.2020 von Carina Kern

Ökosystemleistungen auf dem absteigenden Ast

2019 veröffentlichte der Weltbiodiversitätsrat IPBES (Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) den ersten Report zum Zustand der weltweiten Ökosysteme und ihrer Artenvielfalt. Über die Hintergründe, Ergebnisse und Zukunftsaussichten hat ernährung heute mit Prof. Dr. Josef Settele, dem Co-Chair des Berichtes, gesprochen.

Welche Aufgaben und Ziele verfolgt der Weltbiodiversitätsrat?
IPBES ist ein zwischenstaatliches Gremium und hat die Aufgabe, die Politik zum Thema biologische Vielfalt und Ökosysteme wissenschaftlich zu beraten. Der Weltbiodiversitätsratsammelt weltweit wissenschaftliche Daten, analysiert diese und zeigt politische Handlungsmöglichkeiten zum Schutz der biologischen Vielfalt auf. Der Rat selbst führt keine Forschungsarbeiten durch. Seine Zentralaufgabe ist die Erstellung von unabhängigen Gutachten über den aktuellen Wissensstand zur biologischen Vielfalt und zu den Leistungen, die Ökosysteme für die Menschen erbringen. Das soll Regierungen bei ihrer Entscheidungsfindung in der politischen Umsetzung unterstützen. Die Gutachten sind politikrelevant, schreiben aber keine Politik vor. Aktuell wird IPBES von 137 Regierungen getragen.

Welche Gutachten führte IPBES bereits durch?
Die Themen der Studien werden durch die Mitgliedstaaten festgelegt. Für die Erstellung der Berichte nominieren die Mitgliedstaaten des Weltbiodiversitätsrats Experten, die sich zur freiwilligen Mitarbeit bereit erklären. Als Politikberatungsorgan ist IPBES zum ersten Mal 2016 durch die Bewertung der globalen Lage und Bedeutung von Bestäubern insbesondere in der Landwirtschaft aufgetreten, wobei auch Aspekte wie Klimawandel, invasive Arten, Landnutzung und Pestizide in Bezug auf die Bestäuber beleuchtet wurden. Weitere Arbeiten von IPBES umfassten regionale Bewertungen für Europa und Zentralasien, Asien und den Pazifik, Amerika sowie Afrika. 2019 folgte das Globale Assessment über den Zustand der weltweiten Ökosysteme und ihrer biologischen Vielfalt. Dabei wurden insbesondere die Veränderungen der Biodiversität in den vergangenen 50 Jahren bewertet.

Was waren die zentralen Fragestellungen, die durch das Globale Assessment vor dem Hintergrund der globalen Nachhaltigkeitsziele 2020 beantwortet werden sollten?
Sechs globale Fragestellungen waren zentral: Status der Biodiversität und der Ökosystemleistungen, die wichtigsten Ursachen für Veränderungen, kritische Wissenslücken, der Status quo in Bezug auf die Erreichung globaler Nachhaltigkeits- und Biodiversitätsziele, mögliche Szenarien der Entwicklungen bis 2050 einschließlich solcher zur Erreichung gesellschaftlicher Ziele für eine nachhaltige Zukunft mit hoher Lebensqualität. Für die Ausarbeitung der einzelnen Kapitel wurden über 15 000 Publikationen herangezogen. Schließlich wurde der Inhalt der etwa 1500 Seiten bezüglich der Kernaussagen kondensiert in der Summary for Policymakers für die Mitgliedstaaten auf etwa 40 Seiten aufgearbeitet.

Eine der zentralen Fragen sollte die Treiber für die Veränderungen der Ökosysteme und der biologischen Vielfalt aufklären. Wo sind diese zu finden?
Als die wichtigsten direkten Treiber des Wandels in den vergangenen 50 Jahren wurde bei Landökosystemen und Süßwasservorkommen die veränderte Landnutzung identifiziert. Meere hingegen sind am stärksten von der Ausbeutung beispielsweise durch Überfischung betroffen. Danach kommen die Folgen des Klimawandels, der Umweltverschmutzung durch Chemikalien und Plastik, sowie invasive Arten. Als Grundlage dieser Analysen dienten rund 300 vergleichende Studien. Indirekte Treiber sind als „Werte und Verhalten“ zusammengefasst, die letztlich die grundlegenden Verursacher der direkten Treiber sind. Dazu zählen Einflüsse durch demografische und technologische Entwicklung, soziokulturelle Aspekte, Wirtschaft sowie nationale Regierungsführungen oder globale Konflikte.

Wie wurden die Ergebnisse des Globalen Assessments hinsichtlich zukünftiger Entscheidungen von den Mitgliedstaaten im IPBES-Plenum aufgefasst?
Überraschend war, dass zu einigen Komponenten des transformativen Wandels, also der gezielten Veränderung der Wirtschaftsstruktur durch neue Gesetze und politische Maßnahmen, schnell ein Konsens gefunden wurde. Einig war man sich darüber, künftig in nachhaltige Innovationen zu investieren, neue Anreize dafür zu schaffen und nicht nachhaltige Subventionen abzubauen. Ebenso wurde von allen Mitgliedstaaten anerkannt, dass die Fokussierung auf bislang gängige Ziele – etwa das Wirtschaftswachstum und die damit verbundenen Indikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt – nicht zukunftsfähig sind und durch andere Zielsetzungen abgelöst oder zumindest ergänzt werden müssen, beispielsweise einer guten Lebensqualität unter Erhalt der natürlichen Ressourcen.

Warum brauchen wir Diversität in der Landwirtschaft?
Durch die moderne Landwirtschaft verlieren wir viele Nutzpflanzenarten wie regionale Getreidesorten, aber auch zahlreiche Haustierarten und -rassen. Sinkt die Agrobiodiversität, nehmen wir uns Optionen für zukünftige Entwicklungen. Derzeit wird der Großteil der Anbauflächen nur für wenige Sorten genützt. Die Vielfalt der Pflanzen ist beispielsweise auch eng mit der Bestäubung durch Bienen oder Hummeln verbunden – ein Gut, das wir gratis entgegennehmen. Mit dem steigenden Artenschwund würde der Ertrag von vielen Lebensmitteln wie Ackerbohne, Weizen oder Raps sinken. Gäbe es beispielsweise bei Mandeln oder Kakao keine Bestäubung mehr, läge der Ertragsverlust bei über 90 %. Mit 40–90 % Verlust müsste man bei fast allen Fruchtarten wie Äpfeln oder Birnen bis hin zur tropischen Mango rechnen. Das kann große ökonomische Verluste nach sich ziehen. Der Marktwert der Bestäubung und der daraus entstehenden Produkte wird weltweit auf 250–600 Mrd. Euro pro Jahr geschätzt. Auf Dauer kann ein Bestäuberverlust also die Nahrungsmittelsicherheit gefährden.

Welche Maßnahmen sind unmittelbar notwendig, um die Artenvielfalt zu stärken?
Eine sortenreiche Bewirtschaftung auf kleinen Flächen fördert nachweislich das Ansiedeln von Arten. Intensive Bewirtschaftung auf großen Flächen oder auch Nutzungsaufgaben hingegen verdrängen artenreiche Lebensräume. Wichtig sind daher Agrarumweltmaßnahmen, die eine Balance schaffen. Die Aufgabe der Gesetzgeber ist es, für klare Kommunikation und Transparenz zu sorgen. Eine konsumentenfreundliche Kennzeichnung von nachhaltigen Produkten kann zwar helfen, aber nicht jeder liest diese Hinweise. Wichtiger ist, ein Mindestmaß an Nachhaltigkeitskriterien in der Erzeugung zu fördern, um hochwertige Produkte zu gewährleisten, die auch vielfältige und nachhaltig produzierte Lebensmittel umfassen. Die Mehrheit der Bevölkerung und Teile des Lebensmitteleinzelhandels stehen entsprechenden Neuerungen durchaus positiv gegenüber. Auch die Ernährungsbildung kann dazu beitragen. Bei uns in Sachsen-Anhalt ist Biodiversität in manchen Gymnasien bereits Teil des Curriculums.

Zur Person:

Prof. Dr. Josef Settele – einer der drei Co-Vorsitzenden für das Globale Assessment – ist Agrarwissenschafter und Landschaftsökologe am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) und Mitglied des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) Halle-Jena-Leipzig.

Dieser Artikel wurde erstveröffentlicht in der ernährung heute 3-2020.

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