13.09.2020 von Reinhard Geßl

Bringt Rasse in die Masse!

Pustertaler, Sulmtaler, Schwäbisch-Hällische? Die sind alle vom Aussterben bedroht. Zum Glück nicht die dort lebenden Menschen, sondern die sogenannten Nutztierrassen. Im Streben nach mehr Leistung bei möglichst niedrigen Kosten geht deren Lebensraum verloren. Wir Menschen verlieren dabei nicht nur die Stabilität der Agrobiodiversität, sondern auch sehr viel von unserer wertvollen Esskultur.

Die Milch für den Kaffee kaufen wir im Packerl, das Fleisch für den Griller in der Styroporschale, die Eier in der handlichen Höckerverpackung. Die Milch kommt von der Kuh, das Fleisch sehr gerne vom Schwein oder der Pute, die Eier von der Henne. Die Mehrheit der Menschen in Österreich kauft Lebensmittel nach dem Billigprinzip. Weniger als ein Fünftel der Bevölkerung entscheidet sich bewusst für biologisch tiergerechte Lebensmittel. Die Frage, von welcher Rasse die Milch, das Fleisch oder das Ei kommt, stellt höchstens eine Handvoll Gourmets.

Ich bin dann mal weg!

Weltweit gibt es etwa 8800 Nutztierrassen bei 38 Arten. Jede dieser Rassen ist an die lokalen Bedingungen perfekt angepasst, jede zeichnet sich durch spezifische Eigenschaften aus. Die einen sind besonders hitzeresistent, andere besonders berggängig, andere wiederum verwerten besonders effizient karge Graslandflächen oder lagern gut Fett ins Fleisch ein. Diese Nutztierrassenvielfalt ist heute mehr denn je in Gefahr. 28 % der Nutztierrassen weltweit gelten als gefährdet, alle zwei Wochen stirbt eine Nutztierrasse aus. Dieser Verlust an wertvoller Vielfalt passiert weitgehend unbemerkt, denn gleichzeitig nehmen die produzierten Milch-, Fleisch und Eiermengen rasant zu.

Hybride Leistungen

Bei den Rindern gibt es erfreulicherweise noch Rassen im eigentlichen Sinne. Fleckvieh (Simmentaler), Braunvieh (Brown Swiss) oder Schwarzbunte (Holstein-Friesian) geben uns Milch und Fleisch und prägen unsere Kulturlandschaft. Die Zucht liegt noch weitgehend in bäuerlicher Kompetenz. Lebensmittel von Schwein und Geflügel kommen hingegen von Hybriden. Laut Vererbungsgesetz kann durch gezielte Anpaarung von genetisch möglichst verschiedenen Mutter- und Vaterlinien eine (Nutz-)Generation gezüchtet werden, bei der ein einziger ausgesuchter Leistungsparameter besonders gut und verlässlich ausgeprägt ist. Konkret heißt das, dass Legehybride nur zum Eierlegen taugen und Masthybride alle Futterenergie in Muskelwachstum umsetzen. Die Zuchtfortschritte sind enorm: Während eine traditionelle Zweinutzungsrasse wie das Sulmtaler Huhn rund 150 Eier pro Jahr legt und in etwa 150 Tagen ausgemästet werden kann, legt ein modernes Legehybrid aus multinationaler Zucht 320 Eier und braucht ein Masthybridhuhn keine 30 Tage bis zur Schlachtreife. Diese Tiere sind „Hochleistungssportler“, die auch hochleistungsmäßig betreut und gefüttert werden müssen.

Systematisch umdenken

Die uniformen Leistungen der Hybride entsprechen den Notwendigkeiten des global interagierenden Nahrungsmittelsystems. Die Hochleistungen sind auch Voraussetzung für die oft absurd niedrigen Fleisch-, Eier- und Milchpreise. Der Erlös wird über die Masse und nicht die Rasse erzielt. Der Landwirtschaft müsste es wirtschaftlich eigentlich fast lieber sein, statt 320 Eier um je 45 Cent nur 160 Eier um je 90 Cent zu verkaufen. Den Abnehmern vergeht allerdings beim bloßen Gedanken an so eine Verteuerung rasch der Appetit auf ein „Rasse-Ei“. Abgesehen davon würde die Halbierung der gelegten Eier ein massives Umdenken erfordern, vor allem hinsichtlich des Konsums von versteckten Eiern. Unbezahlbares Glück „Dieses Frühstücksei schmeckt so wie früher bei der Oma, wo die Hendln im Obstgarten herumgelaufen sind und im Misthaufen gescharrt haben.“ Oder: „Diese Geschmacksexplosion bringt nur schneeweißer Lardo vom Schwäbisch-Hällischen Schwein.“ Oder: „Dieses Kurzbratfleisch vom Pustertaler Sprinzen-Ochsen zergeht förmlich auf der Zunge.“ Nutztiere, die für das „Produzieren“ Zeit in einer vielfältigen, intakten Haltungsumwelt haben, belohnen uns mit außergewöhnlichen Geschmackserlebnissen und kulinarischer Seligkeit. Das Glück, einen entsprechenden Milch-, Fleisch- und Eier-Produzenten gefunden zu haben, das längere Warten auf die Kaufmöglichkeit, der faire Einkaufspreis, die konzentrierte Zuwendung bei der Zubereitung und schlussendlich die kleine Portion am Teller sind jene Zutaten, die zu diesem unbezahlbar erhebenden Moment beim ersten Bissen und Genießen führen.

Fazit

Machen wir uns also auf und entscheiden uns für die Rasse in der Masse. Dieser kleine Beitrag zum Erhalt von seltenen Nutztierrassen bringt persönliche Glücksmomente und erhält Vielfalt und Identität der Regionen. Je mehr wir von den gefährdeten Rassen genießen, desto schneller und sicherer wird der Erhalt oder der Wiederaufbau der Bestände gelingen.

Dieser Artikel wurde erstveröffentlicht in der ernährung heute 3-2020.

Literatur

Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen: Der Weltzustandsbericht über tiergenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft. www.fao.org (Zugriff: 22.08.2020).

Gorse C: Alte Nutztierrassen. www.planet-wissen.de (Zugriff: 22.08.2020).

N.N: Kuhrassen/Rinderrassen. www.bluehendesoesterreich.at (Zugriff: 22.08.2020).

N.N: Skizzenbuch #6: Nutztierhaltung. www.bio-wissen.org (Zugriff: 22.08.2020).

Rinderzucht Austria: Zahlen & Fakten. www.zar.at (Zugriff: 22.08.2020).

 

 

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