18.10.2023

f.eh stellt richtig: Sucht nach Lebensmitteln ist ein Mythos

Dr. Marlies Gruber: Verarbeitete Lebensmittel erfüllen nicht die Kriterien von Drogen. Suchtartiges Essverhalten geht vielmehr mit Persönlichkeitseigenschaften wie Impulsivität und Depressivität sowie mit Essstörungen einher.

Das forum. ernährung heute (f.eh) kritisiert Medienberichte der letzten Tage zu einer Publikation im British Medical Journal zum Suchtpotenzial verarbeiteter Lebensmittel: „Obwohl in der Alltagssprache Sucht häufig im Sinne eines erheblichen Verlangens und nicht Aufhören-Könnens verwendet wird, ist die wissenschaftliche Definition des Suchtbegriffs deutlich spezifischer. Daher sind Vergleiche von Lebens- mit Suchtmitteln nicht zielführend. Das Entscheidende an einem Suchtmittel ist, dass es unmittelbar wirken muss und massiv psychisch verändert, also psychotrop wirkt. Das ist mit Lebensmitteln keinesfalls zu erreichen", so Dr. Marlies Gruber, Ernährungswissenschaftlerin und Geschäftsführerin des f.eh.

Übermäßiger Konsum ist jedoch kein Suchtverhalten und endet auch nicht automatisch in einer Sucht. Es gibt gemäß der sogenannten ICD-10-Systematik (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) eine klare Definition für Sucht. Demnach müssen mindestens drei von sechs Kriterien über mehrere Wochen zutreffen, bevor man von einem Abhängigkeitssyndrom oder einer Sucht spricht. Lebensmittel und einzelne Nährstoffe wie Zucker und Fett sind weder alleinstehend noch in gemischter Form Substanzen mit Suchtpotenzial. Auch wenn Speisen, die fett- und zuckerreich sind, besonders schmackhaft sind und daher gerne bevorzugt und oft im Übermaß gegessen werden, gibt es mehrere Indikatoren, die zeigen, dass es sich beim vermehrten Konsum nicht um eine Sucht wie bei dezidierten Drogen handelt.

Ein Indikator ist, dass Cravings – also das immense Verlangen nach etwas Bestimmten – beim Essen durch Kalorienrestriktion nachlassen. Im herkömmlichen Suchtmodell ist das anders: Bei Entzug nehmen Cravings zu. Beim Essen treten Cravings auch nicht nach einer nächtlichen Karenzphase auf, sondern viel eher am Nachmittag oder am Abend. Zudem kommen Cravings nicht regelmäßig genug vor, um die gewohnheits- und regelmäßigen Essmuster und die Zunahme von Übergewicht und Adipositas zu erklären. Generell scheint weniger das Lebensmittel per se einen suchtartigen Prozess zu starten, sondern vielmehr die Art und Weise, wie wir es essen: etwa, wenn wir wiederholt unregelmäßig essen und uns dann überessen. Daher ist es angemessener, von einem suchtartigen Essverhalten als von der Sucht nach einzelnen Produkten zu sprechen.

Suchtverhalten ist zudem oftmals nicht die Primärerkrankung, sondern die Folge psychischer Erkrankungen wie Depressionen, Angst- und Panikstörungen. „Suchtartiges Essverhalten wird bei Personen mit Essstörungen – wie Binge Eating Disorder und Bulimia nervosa – sowie bei jenen mit einer impulsiven Persönlichkeitsstruktur deutlich häufiger beobachtet als bei Menschen ohne diese mentalen Gegebenheiten. So weisen mehrere Forschungsgruppen darauf hin, dass das Konzept der ‚Food Addiction‘ – der Lebensmittel-Sucht – noch nicht etabliert ist und es im Verhalten viele Überlappungen mit Essstörungen gibt. Sie fordern daher eine Überarbeitung der Kriterien des Konzepts und mehr Forschung, um diese Verhaltensausprägung und Differenzierung zu Essstörungen besser zu verstehen. Der Vergleich von Lebensmitteln mit Suchtmitteln ist jedoch eine Verharmlosung tatsächlich problematischer Substanzen und Erkrankungen und daher zurückzuweisen“, so Marlies Gruber.

Kriterien für Abhängigkeitssyndrom nach ICD-10:

  1. Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren (Craving)
  2. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums (Kontrollverlust)
  3. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums (Körperliche Abhängigkeit)
  4. Nachweis einer Substanztoleranz (Toleranzentwicklung)
  5. Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen (Psychische Abhängigkeit I)
  6. Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen (Psychische Abhängigkeit II)

Grad der Verarbeitung korreliert nicht mit BMI

Während in Ländern wie den USA und UK über die Hälfte der täglichen Kalorien über Lebensmittel aufgenommen werden, die der NOVA-Klassifikation zufolge als „hochverarbeitet“ gelten, sind es in Europa im Durchschnitt 25 % der Tagesenergieaufnahme. Zu den Top 5 zählen dabei in Österreich Feine Backwaren, Würste, Saucen, Schokolade und Fertiggerichte. Diese Analyse von Mertens et al. (2022) zeigt zudem, dass der Konsum von Lebensmitteln der NOVA-Klasse 4 auf Populationsebene zwar mit einer höheren Zuckeraufnahme, nicht jedoch mit einem höheren BMI verbunden ist. Ebenso wenig korreliert deren Verzehr mit der Aufnahme von Ballaststoffen. Die Publikation im British Medical Journal (BMJ) verweist zudem auf die Diskrepanz der NOVA-Klassifikation, wonach der Herstellungsprozess in den Vordergrund gerückt wird. Dem halten die Autoren im BMJ entgegen, dass man etwa auch bei selbstgemachten Backwaren Kontrollverluste erleben und mehr als geplant essen kann sowie Cravings vorkommen können. „Auch ein selbstgemachter Kaiserschmarrn – reich an Fett und Zucker – fiele damit in die Kategorie der angeblich süchtig machenden Speisen“, so Gruber.

Ausgewählte Quellen:
Mertens E, Colizzi C, Pnalvo JL: Ultra-processed food consumption in adults across Europe. EJN (2022) 61: 1521-1539

Public Health England: Sugar Reduction – the evidence for action. 2015

Penzenstadler L et al.: Systematic Review of Food Addiction as Measured with the Yale Food Addiction Scale: Implications for the Food Addiction Construct. Current Neuropharmacology, 2019, 17, 526-538

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