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Sozioökonomische Schere in der Gesundheitsförderung stärker beachten
Menschen aus sozioökonomisch schlechter gestellten Bevölkerungsgruppen haben eher Übergewicht und neigen häufiger zu Adipositas. So sind etwa 31 Prozent der Kinder in Neuen Mittelschulen übergewichtig, aber nur 14 Prozent an AHS. Die Corona-Pandemie mitsamt der Eindämmungsmaßnahmen hat diesen Effekt aufgrund einer höheren psychosozialen Belastung, Langzeit-Arbeitslosigkeit und der prekären wirtschaftliche Situation in vielen Haushalten verschärft, wie auch zunehmende Fälle von Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen dokumentieren. Dr. Hanna Augustin, Autorin von „Ernährung, Stadt und soziale Ungleichheit“, und Prof. Dr. Stefan Wahlen, Ernährungssoziologe von der Universität Gießen, sehen beim f.eh live im Talk zum Thema „Ernährung und soziale Ungleichheit“ alle beteiligten Akteure in der Pflicht. Sie betonten im Gespräch mit Dr. Marlies Gruber, Ernährungswissenschafterin und Geschäftsführerin des forum. ernährung heute (f.eh), dass man Maßnahmen setzen muss, die alle Kinder erreichen und die einer Stigmatisierung vorbeugen, etwa über die Gemeinschaftsverpflegung in Schulen und Kindergärten oder mithilfe einer umfassenden Ernährungs- und Verbraucherbildung. Die Experten plädieren zudem für einen partizipativen Ansatz, um die betroffenen Menschen ins Boot zu holen und einen Dialog über ausgewogene, vernünftige und leistbare Ernährung zu führen, ohne Ausschlusseffekte zu verursachen. Die Veranstaltung kann auf der Seite forum-ernaehrung.at/live-im-talk nachgesehen werden.
In Zeiten der Krise und Unsicherheit, in denen die Schere weiter auseinander zu klaffen droht und psychosozialer Stress zunimmt, mehren sich die Signale, dass sich vor allem in einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen das Essverhalten nachteilig verändert. So wurde aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie vermeldet, dass immer mehr junge Menschen mit Essstörungen in die Klinik kommen und gerade Kinder seit Beginn der Corona-Krise mehr an Gewicht zulegt haben. Beide Entwicklungen treffen sozio-ökonomisch eingeschränkte Haushalte deutlich stärker als Familien mit mittlerem oder hohem sozio-ökonomischem Status.
Weniger Obst und Gemüse, weniger Bewegung
Sozial benachteiligte Menschen haben ein höheres Risiko, ungünstigere Ess- und Bewegungsmuster aufzuweisen und übergewichtig oder adipös zu sein. Zahlreiche Erhebungen belegen einen geringeren Konsum von Obst und Gemüse, Vollkornprodukten und Käse, wodurch es zu Mikronährstoffdefiziten wie etwa bei Kalzium oder Folsäure kommen kann. Dagegen nehmen energiedichte Lebensmittel, wie besonders fette und süße Speisen, einen größeren Raum ein. Diese Lebensmittel kommen auch häufig bei emotionalem Essen zum Zug, wenn mit dem Essen negative Gefühle oder Stress kompensiert werden sollen und es nicht vorrangig um die physiologische Sättigung geht. Wenn Existenzängste plagen, fehlen zudem häufig die Kapazitäten für eine gesunde Ernährung. Die Prioritäten liegen in anderen Lebensbereichen. Weiters zeigen Untersuchungen, dass mit abfallendem sozialem Gradienten die körperliche Aktivität sowie die Teilnahme in Sportvereinen sinken.
Auch immaterielle Ressourcen fehlen
Warum es Menschen in schwierigen sozio-ökomischen Lagen schwerer fällt, sich gesund zu ernähren und regelmäßig zu bewegen, ist noch nicht hinreichend erforscht. Klar ist nur, dass eine Vielzahl von Faktoren ausschlaggebend ist. Neben den eingeschränkten finanziellen Mitteln spielen der räumliche Zugang zu Nahrungsmitteln sowie eine Reihe von immateriellen Ressourcen eine Rolle: die für Lebensmitteleinkauf und -zubereitung zur Verfügung stehende Zeit, notwendige Fertigkeiten, das Bewusstsein für und Wissen über eine ausgewogene Ernährung. All diese Faktoren sind für die Gesundheitsförderung stärker zu berücksichtigen. Bislang profitieren von Präventionsmaßnahmen jene Kinder und Erwachsene am wenigsten, die sie am meisten brauchen würden. Deswegen sind inklusive Rahmenbedingungen zu schaffen. Verbesserungspotenzial sehen die Experten etwa in der Gemeinschaftsverpflegung in Kindergärten und Schulen. Zudem ist der Aufbau von Ernährungskompetenzen und Selbstwirksamkeit verstärkt in Regelstrukturen wie der Schule zu verankern.
Chancen mit Wissen und Fertigkeiten steigern
Geringes Ernährungswissen gilt als Mediator zwischen einem niedrigen sozio-ökonomischen Status und schlechter Ernährungsqualität. Dabei ist nicht nur explizites Faktenwissen von Relevanz, sondern auch implizites Wissen. Also jenes tradierte Alltagswissen, das durch Beobachten und Erleben erworben wird. Wissen und Kompetenzen sind implizit verankert, wenn man Sachen tut, ohne aktiv darüber nachzudenken. Ein Beispiel ist das Kochen von Kartoffeln: Um den Weichegrad festzustellen, stechen wir in die Kartoffel. Es ist wichtig, solches Alltagswissen in der Ernährungsbildung zu vermitteln. Allerdings ist gerade dieses in den letzten Jahrzehnten verlorengegangen, so die Experten. Einen wichtigen Beitrag zum Aufbau von implizitem Wissen leisten die Eltern und die gesamte Familie. Sie sind in ihren Kompetenzen und in ihrer Selbstwirksamkeit ebenso zu stärken.
Alimentäre Teilhabe ermöglichen
In einer kommerzialisierten Gesellschaft muss man auch die Frage nach dem Zugang zu den Versorgungsstrukturen stellen. Das betrifft zum einen grundsätzlich positive Lösungsansätze wie Tafeln, die soziale Teilhabe ermöglichen und Lebensmittelverschwendung reduzieren, aber auch zu einer sozialen Stigmatisierung führen können. Auch die Frage nach räumlichen Bedingungen fließt entscheidend ein, wie das Beispiel der sogenannten Food Deserts zeigt – also Stadt- und Landteile, in denen der Zugang zur Versorgung durch physische Hindernisse oder Distanzen erschwert oder verhindert wird. Mangelnde Einkaufsoptionen kann es aber trotz objektiv vorhandenem Angebot auch aus finanziellen, kulturellen oder mobilitätsbedingten Einschränkungen geben. Ziel sollte sein, mit einem Bündel an Maßnahmen die alimentäre Teilhabe als Teil der gesellschaftlichen Teilhabe und damit selbstbestimmtes Agieren zu ermöglichen. Gerade bei der Ernährung kann, aber muss das nicht gelingen.