Experten fordern mehr Differenzierung in Debatte über verarbeitete Lebensmittel
Die verbesserte Lebensmittelverarbeitung etwa durch die Nutzung des Feuers hat die Entwicklung des Menschen und des menschlichen Gehirns positiv beeinflusst. Das hat neben Ackerbau und Viehzucht wesentlich zur Sesshaftwerdung und zum Bau von Städten beigetragen, in denen verarbeitete Lebensmittel wie Brot und Wurst gewerblich hergestellt wurden. In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft beziehen die Konsumenten heute nahezu alle Lebensmittel im Supermarkt. Sowohl unverarbeitete als auch verarbeitete Produkte sind bedarfsangepasst sowie hochqualitativ und erlauben eine gesunde Ernährung – vorausgesetzt man wählt abwechslungsreich aus.
Schwarz-Weiß-Denken beenden
Verarbeitung bedeutet, Lebensmittel verzehrfertig und/oder haltbar zu machen. Das bietet zudem eine Arbeits- und Zeitersparnis, weshalb verarbeitete Lebensmittel gerne gekauft werden. Die Experten kritisieren jedoch die oftmals vorgebrachte Unterscheidung in „gute“ selbstgemachte und vermeintlich „böse“ verarbeitete oder hochverarbeitete Lebensmittel. Das ist nicht zielführend, denn die Unterscheidung bezieht sich oftmals nicht auf die tatsächlichen Verarbeitungsschritte. So gilt etwa industriell hergestelltes Brot als hochverarbeitet, selbst gebackenes jedoch nicht. Enthaltene Zusatzstoffe, die vor allem der Haltbarkeit und Stabilität dienen, zählen wiederum zu den von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) am strengsten geprüften und regelmäßig evaluierten Inhaltsstoffen.
Marc Tittgemeyer betont, dass die Makronährstoffe, vor allem Fett und Kohlenhydrate, sowie die Energiedichte für eine Bewertung von Lebensmitteln wichtiger sind. Die Energiedichte besagt, wie viel Kalorien pro 100 g enthalten sind. Ist sie niedrig, kann man mehr essen, bis ein Sättigungsgefühl auftritt. Ist sie hoch, braucht man kleinere Portionen. Menschen mit einem gesunden Stoffwechsel reagieren schnell auf die Energiedichte und essen weniger, wenn mehr Kalorien enthalten sind. Bei Übergewichtigen scheint diese metabolische Regulation nicht mehr vollständig zu funktionieren. Zu große Portionen und ein schnelleres Esstempo wies eine Studie als die zwei wesentlichen Gründe aus, warum von verzehrfertigen Speisen mehr gegessen wird als von frisch Gekochtem. Hinzu kommt, dass wir mehr essen, wenn wir etwas besonders gerne mögen. Das Belohnungssystem im Gehirn wird aktiviert. Das ist häufig der Fall, wenn der Geschmacksträger Fett enthalten ist, aber unabhängig davon, ob die Mahlzeit vorgefertigt oder selbst zubereitet wurde.
Geschmack vor Nährwerttabelle
Lebensmittel sind heute im Überfluss vorhanden. Da das Gehirn jedoch weiterhin auf historische Notwendigkeiten wie eine ausreichende Kalorien- und Nährstoffaufnahme sowie ein Überschreiten der Energiebalance als Überlebensstrategie ausgerichtet ist, kann das zu Übergewicht führen, vor allem weil die meisten Menschen heutzutage zu wenig Bewegung machen. Dass Nährwertangaben eine effektive Orientierung darstellen, bezweifeln die Experten und begründen dies damit, dass sie für die Konsumenten zu abstrakt sind. Nur Menschen, die ihr Essen kognitiv kontrollieren, schauen auf die Nährwerte und adaptieren ihr Verhalten. Im Regelfall ist das jedoch nicht der Weg, über den sich Menschen ihrem Essen annähern. Die Einschätzung von Speisen funktioniert über Riechen, Schmecken und Fühlen. Daraufhin speichert das Gehirn die enthaltenen Kalorien und Nährstoffe ab. Dementsprechend passen die meisten von uns das Essverhalten durch die Nährwertkennzeichnung nicht an. Bei einem Überfluss an wohlschmeckenden Speisen ist „weniger oft mehr“, so die beiden Experten.