Süßes oder Saures: Geschmack verstehen statt verurteilen
Die Vorliebe für Süßes ist evolutionär tief in uns verankert. Sie signalisierte früher energiereiche und ungiftige Nahrungsquellen – nicht umsonst schmeckt auch die Muttermilch leicht süß. Süß wird unter allen Geschmacksarten auch nicht nur in einem engen und relativ niedrigen Konzentrationsbereich als angenehm empfunden. Während wir Speisen sehr leicht versalzen, zu sauer oder bitter machen können, schmecken wir ein zu starkes Süßen bei etwa Mehlspeisen schwerer. Der Toleranzbereich ist größer. Das gilt allerdings nicht für Flüssiges: Kaffee, Tee oder Limonaden können wir sehr wohl schnell als „versüßt“ wahrnehmen.
Wie intensiv wir süß schmecken, hängt dabei nicht nur von der Menge von etwa Honig, Zucker, Sirup oder Stevia ab. Erwarten wir sehr süßes Empfinden, nehmen wir etwas auch intensiver süß wahr. Auch Gerüche, die üblicherweise mit süßem Geschmack gleichzeitig auftreten, führen selbst in geringen Konzentrationen zu einem verstärkten Süßempfinden. Bekannt dafür sind beispielsweise Aromen wie Vanille, Zimt, Karamell, Erdbeere, Litschi, Tonkabohne, Kardamom oder gar Minze. Textur, Farbe und Temperatur beeinflussen zusätzlich, wie intensiv man Süße empfindet: So schmeckt etwa ein kaltes Getränk weniger süß als bei Raumtemperatur, cremige Texturen wirken süßer als flüssige und rosa- oder orangefarbene Lebensmittel werden oft intuitiv als süßer wahrgenommen.
„Das Wissen rund um die komplexe Erfahrung des Süßgeschmacks ist nicht nur für die Produktentwicklung und Reformulierung von Rezepturen relevant, sondern hilft auch jedem Einzelnen, die eigene Wahrnehmung und Vorlieben besser zu verstehen“, so Marlies Gruber. Bei den allgemeinen Essgewohnheiten wird schließlich seit vielen Jahren in den Ernährungsberichten konstatiert: generell zu viel, zu fett, zu süß, zu salzig.
Flip-Strategy und eine Frage des Timings
„Süßes per se zu verteufeln, hilft jedoch niemandem. Unsere Vorlieben sind kein Fehlkonstrukt, aber wir brauchen heutzutage einen bewussten und genussvollen Umgang“, erklärt Marlies Gruber. „Es geht nicht darum, Süßes generell zu verbannen, sondern um den richtigen Rahmen. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte ‚Flip Strategy‘: Dabei kommt es zu einer Umgewichtung der Portionsverhältnisse. Statt ein großes Stück Kuchen mit einem Hauch Frucht als Deko zu servieren, kann der fruchtige Anteil zum Hauptakteur werden. So geht es nicht um Verzicht, sondern um bewusstes Genießen. Es entstehen alltagstaugliche Lösungen, die schmecken und dabei helfen, den süßen Zahn im Griff zu behalten.“
Dafür ist auch der Zeitpunkt des Konsums relevant: Statt zwischendurch immer wieder zu naschen, ist es sinnvoller, sich ein Dessert nach einem Hauptgang zu gönnen. Das hat mehrere Vorteile. Einerseits steigt die Blutzuckerkurve nicht so stark an wie beim Naschen auf leeren Magen. Andererseits zeigen Studien, dass man oft weniger isst, wenn ein Dessert erwartet wird.
Sauer macht Lust auf mehr
Ein Gegenspieler des Süßen ist das Saure, das mehr ist als nur „kitzeliger Geschmack“ und oftmals unterschätzt wird. Ohne Säure schmeckt Essig nicht mehr sauer, Wein flach und süß-saure Früchte verlieren gänzlich ihren Charakter. Moderate Säure kann zudem den Geschmack von Speisen betonen und interessanter machen, weshalb ein Spritzer Essig oder Zitronensaft häufig in der Küche eingesetzt werden. Saure Lebensmittel bringen zudem oft gesundheitliche Vorteile mit sich: Viele enthalten Vitamin C, organische Säuren und Antioxidantien. Für die Konservierung von Lebensmitteln hat Säure den wünschenswerten Effekt, das Wachstum von potenziell schädlichen Mikroorganismen zu bremsen.
Biologisch fungiert der saure Geschmack als Warnsignal: Er weist auf Unreife oder Verderb hin und reine Säuren können großen Schaden anrichten, das Körpergewebe schädigen und massive gesundheitliche Beeinträchtigungen auslösen. Deswegen kommen sie in der Natur verdünnt vor und auch wir reagieren bei hoher Konzentration zum Schutz vor Säureangriffen im Mund mit Verdünnung, indem wir reflexartig mehr Speichel produzieren. Ein höherer Speichelfluss fördert aber auch die Verdauung und den Appetit. Etliche Vorspeisen, Amuse-Gueule, Antipasti und Tapas scheinen auf diese Wirkung zu bauen, wenn man an Oliven, eingelegte Pilze, Melanzani oder Zucchini, Gurken oder Kapern denkt. Kohlensäure oder Aromen wie Zitrone und Erdbeere verstärken übrigens die Wahrnehmung von Sauer, während Süßes diese abschwächt.