Kompetenz statt Nutri-Score: was Konsumenten wirklich hilft

Front-of-Pack-Labels wie der Nutri-Score werden oft gefordert, verändern aber bei Konsumenten kaum das Kaufverhalten. Portionsgrößen entscheidender für bedarfsgerechte Ernährung.
Front of Pack-Labels (FOPLs) werden oft gefordert, zeigen aber in der Praxis wenig Wirkung. In Ländern, in denen etwa der Nutri-Score eingeführt wurde, bleibt der Effekt auf das Kaufverhalten gering. Zudem ist er wissenschaftlich umstritten. Der Grund: Labels bewerten einzelne Lebensmittel losgelöst vom Gesamtbild der Ernährung – ein Ansatz, den Fachleute ablehnen. Auch das forum. ernährung heute (f.eh) fordert mehr Differenzierung: „Konsumenten brauchen wirksame Maßnahmen, die ihre Eigenverantwortung stärken und zu einem gesunden Lebensstil animieren. Die größten belegten Effekte sehen wir bei der Aufmerksamkeit für Portionsgrößen. Um dieses Bewusstsein zu fördern, braucht es gezielte Angebote. Ebenso zentral sind Wissen und Kompetenzen in Ernährung und Bewegung. Sie sind Voraussetzung dafür, dass Informationen wie FOPLs überhaupt wahrgenommen und verstanden werden“, betont Marlies Gruber, Geschäftsführerin des f.eh.

Verwirrend, intransparent, fehlende wissenschaftliche Grundlage und Irreführung – die Kritik am Nutri-Score fällt insbesondere in Ländern und von Unternehmen, von denen er bereits eingeführt wurde, ernüchternd aus. Damit FOPLs einen Effekt erzielen können, braucht es nämlich auch Begleitmaßnahmen und drei Voraussetzungen: die Wahrnehmung und Akzeptanz des Labels, das Verständnis der vermittelten Information und das entsprechende Kaufverhalten. Studien zeigen: Nur etwa die Hälfte der Konsumentinnen und Konsumenten nimmt FOPLs überhaupt wahr. Bei vertrauten Produkten sinkt die Aufmerksamkeit noch weiter, hier überlagern Routinen die Etiketten.

Fehlendes Verständnis für Aussagekraft von Labels

Wissenschaftler sehen zwar den Vorteil des Nutri-Scores durch seine farbliche Codierung, die beim Einkauf intuitiv verständlich sein und eine schnelle Orientierung ermöglichen soll. Doch gerade beim Verständnis offenbart das Nutri-Score-System Schwächen:

  1. Kontext fehlt: Der Nutri-Score bewertet Produkte pro 100 Gramm oder 100 Milliliter und berücksichtigt nicht, wie viel typischerweise von einem Produkt gegessen oder getrunken wird, und ist damit ein Modell, das keinen Kontext zu Mahlzeit, Portionsgröße oder Häufigkeit bietet.
  2. Vergleich innerhalb von Produktgruppen: Der Nutri-Score vergleicht Pizza mit Pizza und Käse mit Käse. Der Nutri-Score hat keine Aussagekraft über die Kategorien hinweg, was der Großteil der Konsumenten nicht weiß.  Jede zweite Person in Deutschland gab Statista zufolge an, dass die Informationen nicht nachvollziehbar sind.
  3. Trügerische Signale: Eine bessere Bewertung als erwartet (zB Kategorie D statt E) kann das Schuldgefühl senken – und dazu führen, dass Menschen Produkte kaufen bzw. sogar eher kaufen, wie eine Studie erst in diesem Jahr untersucht hat.

Trotz Label: 80 Prozent kaufen wie gewohnt ein

In Frankreich, Italien, Peru und den Niederlanden zeigten sich durch FOPLs keine signifikanten Verhaltensänderungen. Rund 80 % der Befragten gaben an, trotz Nutri-Score keine anderen Produkte zu wählen. Eine Metaanalyse aus 2022 bestätigt: FOPLs allein beeinflussen das Kaufverhalten kaum – insbesondere ohne begleitende Information. Andere Maßnahmen – wie Stillen im Säuglingsalter oder ein entspannter Umgang mit Lebensmitteln – sind laut einer neuen mexikanischen Übersichtsarbeit deutlich wirkungsvoller gegen Übergewicht.

Fazit: Wirkung überschätzt

„Ob FOPLs tatsächlich gesundheitsfördernd wirken, ist fraglich: Nur rund die Hälfte nimmt sie wahr oder versteht sie richtig – und das Kaufverhalten ändert sich kaum“, so Gruber. „Lebensmittel in ‚gut‘ und ‚schlecht‘ zu unterteilen, greift zu kurz. Ernährung ist mehr als das. Entscheidend sind Vielfalt, Portionsgrößen, Konsumhäufigkeit, Bewegung, soziale Balance sowie kulturelle und ökonomische Rahmenbedingungen.“ Und: Gerade für Menschen mit niedrigerem sozioökonomischem Status ist der Preis das zentrale Kaufkriterium. Deshalb betont Gruber: „Wissen und Kompetenzen sind der Schlüssel für eigenverantwortliche Entscheidungen. Eine fundierte Ernährungs- und Verbraucherbildung – vor allem in Schulen – ist ein ganzheitlicher Ansatz, sozial gerecht und wirkungsvoll für Gesundheit und Volkswirtschaft.“

Literatur

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