Wundermittel Mariendistel?
Die Leber ist das Kraftwerk des Körpers. Sie bereitet Nahrungsbausteine auf, macht sie für den Körper verwertbar, reguliert den Fett- und Zuckerstoffwechsel und sorgt dafür, dass mit der Verdauung alles klappt. Ein Organ mit dieser Funktionsvielfalt will natürlich auch gepflegt werden. Dass Alkohol und kalorienreiches, fettes Essen langfristig die Leber schädigen können, ist kein Geheimnis. Immer wieder werden Wundermittel propagiert, die die Leber schützen sollen. Darunter findet sich auch die Mariendistel. Präparate dieser Pflanze gibt es wie Sand am Meer: Kapseln, Tees, Kräuter-Extrakte oder Pflaster. Die Mariendistel war bereits in der Antike bekannt und gilt seit Mitte des 18. Jahrhunderts als Heilpflanze. Ihr wird eine leberreinigende und entgiftende Wirkung zugesprochen, sie soll die Zellmembranen stabilisieren, wodurch Zellgifte nicht eindringen können.
Wissenswert
Der Wirkstoff in der Mariendistel heißt Silymarin. Er wird aus den Früchten der Distel gewonnen und ist ein Gemisch aus vier verschiedenen Flavonolabkömmlingen: Silibinin, Isosilibinin, Silychristin und Silydianin. Das Stoffgemisch wird bei entzündlichen Erkrankungen der Leber eingesetzt und soll leberschützend und -stärkend sowie entgiftend wirken.
Wirkung nicht eindeutig bestätigt
Aufgrund der vermeintlich positiven Eigenschaften wurden Mariendistelpräparate lange Zeit gerne bei Leberschäden eingesetzt. Die erhoffte Wirkung war, dass sich das Organ dadurch schneller regeneriert und Leberschädigungen verlangsamt werden.
Ob die Pflanze tatsächlich hilft, ist wissenschaftlich nicht gesichert. In Tierversuchen scheint der Wirkstoffcocktail zwar vor Leberschäden zu schützen, doch was bei Tieren wirkt, ist nicht zwangsläufig auf den Menschen übertragbar. Lediglich bei In-vitro Versuchen an menschlichen Leberzellen wurde bestätigt, dass der Wirkstoff Silymarin Einfluss auf die Entgiftungssysteme der Zellen hat. Um eine Wirkung zu erzielen, sind aktuelle Dosisempfehlungen der Hersteller (beispielsweise 624 mg Extrakt täglich) unzureichend. Die notwendige Aufnahmemenge ist physiologisch gar nicht erreichbar.
Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2017, die sechs systematische Übersichtsarbeiten zusammenfasst, ergab außerdem, dass der Inhaltsstoff Sylibin zwar die Serumspiegel der Leberenzyme Aspartat- und Alanin-Aminotransferase senkte, jedoch keine klinische Relevanz besteht. Das heißt, dass eine Wirkung auf Mechanismen im menschlichen Körper besteht, jedoch laut aktueller Forschungslage noch keine gesicherte Evidenz für den Einsatz bei bestimmten Erkrankungen oder Beschwerdebildern vorliegt.
Warum die Distel dennoch so beliebt ist und immer wieder therapeutisch verwendet wird, ist unklar. Oft werden Mariendistelpräparate bei medikamentöser Therapie, wie einer Chemotherapie, eingesetzt. Dadurch verbessern sich tendenziell jene Leberenzymwerte, die vor allem bei Lebererkrankungen erhöht sind. Nebenwirkungen, die durch die Chemotherapie verursacht werden, können ebenfalls reduziert werden. Patienten fühlen sich mitunter besser und das ist oftmals Grund genug, es mit derartigen Präparaten zumindest zu probieren.
Hepatitis, Leberzirrhose und Sylibin
In einer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2019 wurden Studien, die mit Personen mit Alkoholkrankheit oder Hepatitis-Infektion gemacht wurden, zusammengefasst und analysiert. Der Wirkstoff Sylibin führte bei frühzeitigem Einsatz bei Menschen mit Leberzirrhose zu einer deutlichen Verringerung der leberbedingten Todesfälle. Festgestellt wurde, dass der Nutzen mit dem Zeitpunkt des Einsatzes korrelierte: Je früher mit der Einnahme begonnen wurde, desto besser waren die Erfolge, da das Regenerationspotenzial der Leberzellen noch hoch ist. Systematische Übersichtsarbeiten oder Meta-Analysen liegen aktuell jedoch noch nicht vor, um diese Ergebnisse zu bestätigen.
Wissenswert
Im Vergleich zu anderen Organen regeneriert sich die Leber relativ gut, denn beschädigte Zellen werden bei rechtzeitigem Handeln wieder neu gebildet. Zumindest zwei alkoholfreie Tage in der Woche helfen der Leber bei der Regeneration.
Schutz bei Pilzvergiftungen
Bei Vergiftungen durch den Knollenblätterpilz scheint die Mariendistel hingegen gut zu helfen. Das Gift des Pilzes – Amatoxin – schädigt die Leber und führt bei hohen Dosen zu komplettem Leberversagen. Das in der Mariendistel enthaltene Silibinin senkt das Risiko, an einer Amatoxin-Vergiftung zu sterben. Diese Wirkung ist auch beim Menschen gut untersucht: Silibinin blockiert einen Transporter, wodurch das Pilzgift nicht in die Zellen aufgenommen wird. Die Hauptursache für Lebererkrankungen ist jedoch keine Pilzvergiftung, sondern neben Hepatitis Infektionen, Alkohol und vor allem der Lebensstil.
Fazit
Mariendistelextrakte werden oft zur Behandlung von Leberschäden eingesetzt, wenngleich nicht ausreichend gesichert ist, ob sie tatsächlich wirken. Inhaltsstoffe der Mariendistel weisen jedenfalls antioxidative Wirkung auf. Wie weit diese für das klinische Setting relevant ist, ist bis dato in Humanstudien noch unzureichend erforscht. Schlägt man bei einem Fest oder gemütlichen Beisammensein über die Stränge und hat Bedenken um die eigene Lebergesundheit, dann helfen ausreichend Bewegung und alkoholfreie Tage mehr als das Extrakt.
Welche Fähigkeiten unsere Leber besitzt und wie man sie am besten schützen kann, lesen Sie zudem in der ernährung heute 2/2017.
Literatur
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