Lebensmittelverarbeitung: Schlüssel zu Vielfalt am Teller
Lebensmittelverarbeitung ist rechtlich definiert als „eine wesentliche Veränderung des ursprünglichen Erzeugnisses, beispielsweise durch Erhitzen, Räuchern, Pökeln, Reifen, Trocknen, Marinieren, Extrahieren, Extrudieren oder durch eine Kombination dieser verschiedenen Verfahren“ [Verordnung (EG) Nr. 852/2004]. Aus wissenschaftlich-technologischer Sicht wird darunter jeglicher Einsatz von Methoden und Techniken zusammengefasst, die der Veredelung landwirtschaftlicher Produkte zu verbrauchergerechten Lebensmitteln dienen.
Henry Jäger vom Institut für Lebensmitteltechnologie der BOKU University in Wien nennt als Ziele der Verarbeitung die Lebensmittelsicherheit, die Verdaubarkeit, den Geschmack, die Haltbarkeit sowie die Bequemlichkeit bzw. Convenience in der Verwendung sowie die Nachhaltigkeit zu verbessern. Dabei entsteht das vielfältige Angebot aus dem Zusammenspiel von verschiedenen Rohstoffen, den unterschiedlichen Inhaltsstoffen und Verarbeitungsverfahren sowie den daraus resultierenden Lebensmitteltexturen. Relevant ist hierbei, klar zwischen der Prozessierung und der Formulierung zu unterscheiden. Prozessierung umfasst die Verfahren der Verarbeitung im Haushalt oder in der Industrie wie Mahlen, Erhitzen oder Fermentieren. Die Formulierung beschreibt die Rezeptur mit der Auswahl und Kombination der Zutaten.
Kriterien: Convenience und Aufwand der Verarbeitung
Für die Unterscheidung, wie stark ein Lebensmittel verarbeitet ist, gibt es verschiedene Konzepte, die Jäger als sinnvoll beschreibt und die er unabhängig von der Anzahl und Kombination der Zutaten betrachtet.
Einerseits kann eine Unterteilung in sogenannte Fertigungs- bzw. Conveniencestufen erfolgen. Diese berücksichtigen, welcher Zubereitungsaufwand bis zum Verzehr des Lebensmittels schon erledigt ist bzw. noch erfolgen muss. Als Grundstufe gilt die unbehandelte, rohe Ware. Es folgen küchenfertige Produkte wie zerlegtes Fleisch oder geputztes und geschnittenes Gemüse und Obst, garfertige Lebensmittel wie Teigwaren, Aufbereitfertiges wie Salatdressings oder Kartoffelpüree, regenerierfertige Produkte wie Fertiggerichte und verzehrfertige Ware wie kalte Saucen, marinierte Salate oder Obstkonserven.
Ein anderer Ansatz ergibt sich über Intensität, Dauer und Anzahl der Prozessschritte sowie über den Energieeintrag bei mechanischen oder thermischen Verfahren. Diese Herangehensweise erlaubt es, Veränderungen von Textur, Haltbarkeit, Bioverfügbarkeit und Lebensmittelsicherheit präzise zu erfassen und in Relation zum Nährwert zu setzen.
Kritisch ordnet Jäger dagegen die international verbreitete NOVA-Klassifikation ein, bei der technologische Prozesse mit Zutaten und Herstellungsorten vermischt werden und die den Begriff der „hochverarbeiteten Lebensmittel“ etabliert hat. Die NOVA-Einteilung führt zu wissenschaftlich nicht haltbaren Vereinfachungen, ist inkonsistent und verhindert ein echtes Verständnis dafür, wie Verarbeitung wirkt. Die rein positive Betrachtung unverarbeiteter Lebensmittel blendet aus, dass Risiken etwa durch mikrobiologische Belastungen oder Pathogene ohne Prozessierung größer sein können. Verfahren wie Pasteurisierung, Fermentation oder kontrollierte Erhitzung reduzieren krankheitserregende Mikroorganismen, verlängern die Haltbarkeit und schützen Verbraucher vor lebensmittelbedingten Erkrankungen. Ein zentrales Argument für Verarbeitung liegt daher in ihrem Beitrag zur Lebensmittelsicherheit.
Potenzial des „essbaren Mikrobioms“ nutzen
Gabriele Berg, Professorin für Umweltbiotechnologie an der TU Graz, beleuchtet die sinkende mikrobielle Vielfalt entlang der Lebensmittelkette, die multifaktoriell ist: Eine Landwirtschaft mit Hochertragssorten, synthetischen Düngemitteln und Pflanzenschutzmitteln führt zu einem Rückgang der Vielfalt im Boden- und Pflanzenmikrobiom sowie der Biodiversität. Lange Lagerzeiten, traditionelle Konservierungsschritte ebenso wie moderne Produktions- und Verarbeitungsweisen reduzieren die mikrobielle Vielfalt von pflanzlichen Lebensmitteln. Berg bezeichnet sie als sicher, aber mikrobiell „verarmt“. Eine Sonderstellung haben fermentierte Nahrungsmittel wie Sauerkraut, Kimchi oder Joghurt: Sie verbinden Haltbarkeit mit lebendiger mikrobieller Vielfalt und zeigen, dass Verarbeitung auch positive mikrobiologische Effekte haben kann.
Berg hat vor 10 Jahren die Vision vom „essbaren Mikrobiom“ entwickelt. Damals galt das Wissen, dass Lebensmittel zwar Mikroorganismen enthalten, diese aber durch den niedrigen pH-Wert im Magen abgetötet werden. Mittlerweile ist anerkannt, dass es ein spezifisches Magenmikrobiom gibt und ein Teil der Darmbakterienvielfalt ursprünglich aus der pflanzlichen Nahrung stammt. Jede Mahlzeit mit Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten, Nüssen und Kräutern enthält potenziell Billionen von Mikroorganismen und trägt zu einem vielfältigen menschlichen Mikrobiom bei. Das spielt eine wichtige Rolle, da es eng mit Immunfunktion, Stoffwechsel und langfristiger Gesundheit verknüpft ist. Ein verarmtes oder unausgeglichenes Mikrobiom steht wiederum in Zusammenhang mit Krankheiten wie chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, Allergien, Autoimmunerkrankungen, Adipositas oder Diabetes.
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