Neophobie in Grün: was das ist und wie man Kinder für mehr Gemüse begeistern kann
Was bedeutet Neophobie?
Neophobie (von griech. neos, neu, und phobein, fürchten) bezeichnet im Allgemeinen die Angst vor allem, das neu oder unbekannt ist. Bei der Neophobie im Kontext Ernährung geht es um die Ablehnung neuer oder unbekannter Lebensmittel, die bei manchen länger anhält als bei anderen und zu einem gewissen Grad beeinflussbar ist. Ein Beispiel für die Beeinflussbarkeit ist der Wohnort: Im ländlichen Raum tritt Neophobie grundsätzlich häufiger auf als in urbanen Gegenden. Das ist etwa auf eine geringere Auswahl internationaler Lebensmittel und traditionelle Angebote in der Gastronomie zurückzuführen.
Vor allem Kinder und ältere Menschen sind betroffen
Neophobie kommt auch bei Erwachsenen vor. In besonderem Ausmaß sind jedoch Kinder betroffen – und zwar aus gutem Grund: Kleinkinder erkunden ihre Umgebung mit allen Sinnen, und Neophobie hilft ihnen dabei, sich vor potenziellen Gefahren zu schützen. Im Zuge der evolutionären Entwicklung bezog sich dieser Schutzmechanismus hauptsächlich auf giftige Lebensmittel, betrifft heute aber beispielsweise auch Medikamente – und wird als Entwicklungsneophobie bezeichnet. Bei Kindern erlebt sie den Peak bei etwa sechs Jahren und lässt dann von selbst nach. Warum Kinder, die ein Gericht mit 2–3 Jahren noch lustvoll verspeist haben, diese bekannte Speise plötzlich verschmähen, ist aus Elternsicht zwar spannend zu wissen, wird in der Literatur aber vernachlässigt. Denn biologische Hard Facts sprechen dagegen: Kinder benötigen mit zunehmendem Alter mehr Nährstoffe, verzehren aber eine geringere Bandbreite an Lebensmitteln. „Dieses neophobe Essverhalten gibt sowohl Eltern als auch Wissenschaftern Rätsel auf“, schreibt etwa die Forscherin Sophie Nicklaus in ihrem Buch über Essen und Trinken im Kindesalter. Eine spezifische Sensibilität für bestimmte Aromen kann beispielsweise die Ursache sein. In den meisten Fällen wächst sich Neophobie aus, bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen ist sie am niedrigsten ausgeprägt. Im mittleren Erwachsenenalter steigt sie allerdings wieder an und mündet in einem zweiten Peak im hohen Alter. Für diesen zweiten Anstieg gibt es mehrere Erklärungsversuche: höheres Ekelempfinden, das unterschiedliche Lebensmittelangebot zwischen Gegenwart und eigener Kindheit, sowie – im hohen Alter – Demenz und damit das Vergessen, dass man ein Lebensmittel schon gekostet hat.
Häufigkeit unklar - wie misst man Neophobie?
Wie viele Kinder von Neophobie betroffen sind, lässt sich nicht so einfach beantworten. Ein systematischer Review mit Studien im Zeitraum von 2000 bis 2019 weist eine beachtliche Bandbreite von 13 bis 100 % aus. Dieses Zahlenspektrum spiegelt einerseits Länderdifferenzen wider und ist andererseits zumindest zum Teil darauf zurückzuführen, dass Messmethoden sehr deutlich variieren und der Grad der Neophobie unterschiedlich eingestuft wird.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, um Neophobie zu messen. Die Food Neophobia Scale (FNS) von Pliner & Hobden ist die bekannteste Skala und beinhaltet zehn Aussagen (siehe unten). Jede Zustimmung wird anhand einer 7-Punkte-Skala bewertet, zudem wird der Skalenwert bei Aussagen, die mit einem Stern gekennzeichnet sind, reversiert. Je höher der Gesamtscore, desto ausgeprägter die Neophobie. Allerdings klassifizieren manche Studienautoren Neophobie nicht anhand des Absolutwerts, sondern relativ im Vergleich zum Mittelwert oder Median der in der Studie befragten Personen. Oder es wird die halbe maximale Punktezahl (35 von 70) als Trennlinie zwischen Neophobie und Neophilie herangezogen, wobei Letztere die Neugier und Vorliebe für Neues bezeichnet. Auch die Einteilung in verschiedene Quantile oder drei gleich große Intervalle ist eine Herangehensweise.
Food Neophobia Scale (FNS)
- Ich probiere häufig neue und unterschiedliche Lebensmittel.*
- Ich vertraue neuen Lebensmitteln nicht.
- Wenn ich nicht weiß, was in einem Lebensmittel enthalten ist, probiere ich es nicht.
- Ich mag Lebensmittel aus verschiedenen Ländern.*
- Ethnisches Essen sieht zu seltsam aus, um es zu essen.
- Bei Einladungen probiere ich gern neues Essen.*
- Ich habe Angst, Dinge zu essen, die ich noch nie zuvor gegessen habe.
- Ich achte sehr genau auf die Lebensmittel, die ich esse.
- Ich esse fast alles.*
- Ich probiere gerne neue ethnische Restaurants aus.*
*Punkte bei Gesamtbewertung abziehen
Eine verkürzte Variante ist die Child Food Neophobia Scale (CFNS), bei der die Zustimmung zu einer geringeren Anzahl an Aussagen meist durch die Eltern bewertet wird.
Giftiges Grün?
Kinder haben besonders häufig eine Neophobie gegenüber Gemüse, aber auch Obst und eiweißreichen Lebensmitteln. Dabei ist Neophobie mit einem höheren Kohlenhydrat-/Stärkekonsum assoziiert. Die Ablehnung von Gemüse kann verschiedene Ursachen haben. Pflanzentoxine sind für kleine Kinder gefährlicher als für Erwachsene, da die tolerierbare Dosis vom Körpergewicht abhängt. Manche Pflanzengifte lassen sich mechanisch entfernen, andere werden beim Kochen zerstört. Im Gegensatz zu Früchten sind Blätter und andere Pflanzenteile öfter Träger von Pflanzentoxinen. Das könnte die häufigere Ablehnung von Gemüse im Vergleich zu Obst erklären. Kinder müssen somit lernen, welche Blätter genießbar sind. Gemüse bietet darüber hinaus wenig Energie und – von Hülsenfrüchten abgesehen – wenig Protein. Zudem schmecken einige Gemüsesorten bitter. Die Ablehnung des Bittergeschmacks ist angeboren, weshalb eine Vorliebe für bittere Lebensmittel erst durch Erfahrung erworben werden muss.
Tipps, um Kinder für Gemüse zu begeistern
Es gibt kein Patentrezept, wie man Kinder zum Verzehr pflanzlicher Lebensmittel motivieren kann, aber einige Tipps, die einen Versuch wert sind:
- Vorbilder! Wenn Erwachsene oder Peers pflanzliche Nahrungsmittel mit Genuss verzehren, sind Kinder eher bereit, ein unbekanntes Lebensmittel zu probieren.
- Mithelfen bei der Auswahl der Gerichte und beim Kochen. Der Ort dafür kann auch die Schule sein. Als 8- bis 9-jährige Kinder in einer Studie in die Rezeptauswahl, den Online-Einkauf und den Kochprozess involviert wurden, erhöhte dies den Willen, neue Speisen zu probieren. Ähnlich wählten Kinder im Alter von 7 bis 13 Jahren, die sich an der Zubereitung von drei ihnen unbekannten Speisen und Getränken beteiligten, diese im Zuge der Nachmittagsjause öfter aus als eine unbeteiligte Vergleichsgruppe.
- Sensorische Eigenschaften, vor allem Texturen, sind ein wesentlicher Aspekt, wenn es um die Ablehnung von Produkten geht. Eine aktuelle Studie beschäftigte sich mit den Texturpräferenzen von 3- bis 6-jährigen Kindern. In diesem Alter ist Neophobie besonders ausgeprägt. 235 Kindern wurden mittels Fragebogen 14 Lebensmittelpaare gezeigt. Die jungen Probanden sollten jeweils einen Favoriten bestimmen. Dabei wurden die Paare so ausgewählt, dass sich die Produkte in der Textur unterschieden: hart vs. weich (z. B. Karottenstücke vs. geriebene Karotten; Knäckebrot vs. Toastbrot; Käsestück vs. Käsescheiben) oder große vs. keine Partikel (z. B. Orangensaft mit und ohne Fruchtfleisch; Erdbeerjoghurt mit Fruchtstücken und ohne Stücke). Anschließend wurde ein Test mit realen Lebensmittelpaaren durchgeführt. Eltern bewerteten die Neophobie ihrer Kinder unter anderem anhand der CFNS (siehe Seite 15). Das Ergebnis: Kinder mit stärkerer Neophobie bevorzugten Lebensmittel ohne Partikel deutlich. Zwar gab es keine generelle Bevorzugung für harte oder weiche Texturen, mit zunehmendem Alter zeigte sich jedoch ein Wandel bei den Texturpräferenzen. Ältere Kinder mochten weichere Texturen mehr als jüngere. Das mag am beginnenden Verlust des Milchgebisses und dem damit verbundenen Diskomfort beim Beißen harter Texturen liegen.
- Kleinere Kinder bevorzugen meist Einzelzutaten anstelle von Mischungen. Positiver Nebeneffekt: Auf diese Weise lernen sie das jeweilige Lebensmittel besser kennen.
- Nach wie vor gilt: Wiederholtes zwangloses Anbieten erhöht die Chance auf Erfolg. Studien zeigen, dass die Akzeptanz von Gemüse bei 1- bis 6-jährigen Kindern durch oftmaligen Konsum gesteigert werden kann. Neue Lebensmittel sollten auch dann mehrfach angeboten werden, wenn das Kind diese vorerst nicht probiert, da auch der wiederholte visuelle Reiz mitunter die Bereitschaft zum späteren Verkosten erhöht. In einer Longitudinalstudie wurden Kinder im Alter von vier Jahren gebeten, für sie unbekannte Lebensmittel zu kosten. Das Prozedere wurde erneut durchgeführt, als die Kinder 4,5; 5,5 und 6,5 Jahre alt waren. Ein Versuchsleiter dokumentierte sensorische Verhaltensweisen der Kinder – riechen, abschlecken, ausspucken, schlucken und verweigern – und leitete daraus Akzeptanzen ab. Das Ausspucken nahm mit zunehmendem Alter ab, ebenso die komplette Ablehnung. Das sensorische Erkunden des Essens könnte die Vertrautheit mit den Lebensmitteln und damit die Akzeptanz erhöht haben.
- Entspannt bleiben! Die Zeit ist beim Abbau der Neophobie eine Verbündete.
Fazit
Neophobie bei Kindern betrifft häufig Obst oder Gemüse. Das lässt sich unter anderem mit der evolutionär bedingten Vorsicht hinsichtlich giftiger Pflanzeninhaltsstoffe und dem teilweise bitteren Geschmack erklären. Verschiedene Ansätze wie das Einbeziehen von Kindern beim Kochen und das wiederholte zwanglose Anbieten neuer Lebensmittel können hilfreich sein, um Neophobie zu überwinden und eine vielfältige Ernährung zu fördern.
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