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Verjus: Renaissance des sauren Saftes

„Verjus ist die Entdeckung der letzten zehn Jahre, ein bisschen die Zukunft“, sagt Armin Tement, Kellermeister und Winzer am gleichnamigen Bio-Weingut. Für mich trifft das jedenfalls zu. Die Geschichte einer persönlichen Annäherung.

„Alkohol verträgt man häufig nicht mehr so gut und bereut das Glas Rotwein vom Vorabend am nächsten Tag im Büro.“ Die deutsche Gynäkologin, Menopause-Expertin und Autorin Dr. Sheila de Liz empfiehlt im finalen Kapitel ihres Buches „Woman on Fire – Alles über die fabelhaften Wechseljahre“, diesen Lebensabschnitt zum Anlass für Lebensstiländerungen zu nehmen. Für sie ganz wesentlich: Der Alkoholkonsum sollte auf Genussmomente beschränkt bleiben. Was aber trinken, wenn einem – vor allem als Speisenbegleiter – Wasser zu langweilig, Soda-Zitron zu abgedroschen, Fruchtsäfte zu süß sind und alkoholfreies Bier einfach nicht schmeckt? Ich habe in einer längeren alkoholfreien Phase Verjus für mich entdeckt. Und ich bin nicht die Einzige: Der saure Saft erfährt gerade eine Renaissance.

Gewusst?

Dijon-Senf wird im Original laut Rezeptur mit Verjus statt Essig hergestellt.

Grüner Saft aus unreifen Trauben

Bei Verjus, zusammengesetzt aus den französischen Wörtern vert (grün) und jus (Saft), handelt es sich laut Österreichischem Lebensmittelbuch „um den sauren, unvergorenen Presssaft unreif geernteter (‚grüner‘) Weintrauben […]“. Entsprechend lautet die Verkehrsbezeichnung „Saft unreifer Trauben“ oder „saurer Saft unreifer Trauben“. Diese muss auf der Verpackung zu finden sein, die Bezeichnung „Verjus“ ist optional. Verjus findet sich im Lebensmittelbuch übrigens nicht im Kapitel Fruchtsäfte, sondern im Kapitel Essig unter „andere essigähnliche Würzmittel“. Armin Tement hat mich über den Grund aufgeklärt: Verjus hat einen Zuckergehalt von unter 10 KMW (Klosterneuburger Mostwaage, ein Maß für den Zuckergehalt von Traubenmost). Um per Gesetz als Traubensaft zu gelten, müssen aber mindestens 10 KMW erreicht werden.

Herstellung: Vorlesen, Pressen, Pasteurisieren

Einige Wochen vor der Ernte für die Weinproduktion (Weinlese) werden die noch unreifen, sauren Trauben für den Verjus geschnitten. „Vorlesen“ nennt man das. Dr. Manfred Gössinger, Abteilungsleiter Obstverarbeitung an der HBLA und Bundesamt für Wein- und Obstbau Klosterneuburg, ergänzt: „Die Winzer nutzen bei der Ausdünnung die unreifen Trauben und pressen diese aus (,By-Product‘).“ Das will Armin Tement so nicht stehen lassen: Die Verjus-Produktion laufe nicht einfach mit, sondern müsse ebenfalls gut geplant sein, schon allein deshalb, weil Karenzzeiten nach dem Anwenden von Pflanzenschutzmitteln einzuhalten sind. Auch das Lebensmittelbuch weist explizit auf diese Vorsichtsmaßnahme hin, da der Verarbeitungszeitraum von Verjus mitten in der Spritzperiode für die Weinproduktion liegt. Die unreifen Trauben werden gepresst, der Saft (meist) von Trübstoffen befreit. Des Weiteren können gemäß Lebensmittelbuch zur Schönung des Saftes die üblichen Verfahren der Fruchtsaftherstellung angewendet werden, um Trübungen durch den Ausfall von Weinsäure, Eiweiß und Polyphenolen zu verhindern. Zur Haltbarmachung wird der Verjus üblicherweise pasteurisiert. „Das ist nötig, denn in seiner Stabilität unterscheidet er sich deutlich von Essig“, erläutert Manfred Gössinger. Ist die Flasche einmal geöffnet, sollte der Inhalt rasch verbraucht werden.

Infos für Gesundheitsbewusste

Was herauskommt, ist ein süß-saurer bis sehr saurer Saft mit vor allem hohen Gehalten an Apfel- und Weinsäure und maximal 12 g Zucker pro 100 ml (entsprechend maximal 10 KMW, siehe oben). Immer alkoholfrei. Mit einem Histamingehalt unter der Nachweisgrenze. Und einem hohen Gehalt an Polyphenolen, namentlich Gallussäure, Kaffeesäure, Catechin und Quercetin-Glucosid – und zwar umso höher, je unreifer die Trauben geerntet wurden.

Beliebt in Apotheken und Küchen

Wenn Armin Tement von einer „Entdeckung der letzten zehn Jahre“ spricht, dann spiegelt das die Perspektive des zeitgenössischen Weinbauers wider. Historisch betrachtet handelt es sich vielmehr um eine Renaissance: Der deutsche Autor und Publizist, Theologe, Pädagoge und Psychologe Elmar M. Lorey stellt auf seinem „Informationsportal zu einem seit dem Mittelalter beliebten Würzmittel aus dem Weinberg“ die Frage: „Was ist da passiert, dass ein ehemals so beliebtes Produkt aus dem Weinberg in solche Vergessenheit geriet?“ Denn Verjus – oder Agrest, wie er früher genannt wurde – war bereits in der Antike bekannt und im Mittelalter als Heil- und Würzmittel sowohl in den Apotheken als auch in den Küchen verbreitet.

Verwendungsmöglichkeiten

Als ich mich vor gut einem Jahr mit Verjus zum Verkosten eingedeckt habe, habe ich gestaunt, wie viele Weingüter Verjus produzieren und wie groß die Produktvielfalt ist!

Es gibt Verjus in 250-ml-Fläschchen mit Edel-Essig-Anmutung, besonders geeignet zum Würzen, es gibt Verjus in 750-ml-Weinflaschen, die klar die Assoziation Wein-Alternative wecken, ja, es gibt sogar Verjus-Frizzante als Sekt-Alternative. Es gibt Verjus von sehr sauer über sauer bis fruchtig-mild. Es gibt ihn aus weißen Trauben oder aus roten. Konventionell und bio. Und als Bestandteil von alkoholfreien wie alkoholhaltigen Mischgetränken. Gar nicht so einfach ist es hingegen, Verjus zu kaufen! Fragen Sie zuerst beim Weingut Ihres Vertrauens. Wenn Sie dort nicht fündig werden, empfehle ich verjus-shop.com – ein Tipp aus persönlicher Erfahrung. Und ich wage eine Prophezeiung: Es wird nicht mehr lange dauern, bis man Verjus auch im Lebensmitteleinzelhandel kaufen kann.

Was mir auch noch aufgefallen ist: Für einen „Traubensaft“ erscheint Verjus erstaunlich teuer, die Preise sind eher mit denen von Wein vergleichbar. Dieses Erstaunen habe ich auch Armin Tement mitgeteilt. Seine Antwort: „Verjus ist ein absolut hochwertiges Getränk, das gleich wie unser Wein produziert wird. Daher sind die Entstehungskosten ebenfalls hoch.“

Ideen für den Verjus-Einstieg

  • Ich mag Verjus am liebsten als Getränk: 1:1 bis 1:3 gespritzt mit Soda und einer Zitronenscheibe
  • mein alternativer Sommerspritzer!
  • Als Speisenbegleiter, wo passend, trinke ich ihn pur.
  • Verjus-Frizzante habe ich jetzt auch immer eingekühlt, falls sich spontan Anlässe zum Anstoßen ergeben und jemand alkoholfrei bleiben möchte.
  • Vor allem wenn Kinder mitessen, nehme ich zum Ablöschen für Suppen und Soßen oft Verjus statt Wein.
  • Für Salatdressings ist Verjus neben Essig und Zitronensaft eine willkommene Abwechslung.

Theres Rathmanners Fazit zum Verjus

Mich hat Verjus überzeugt: Die dezente Süße bei gleichzeitig ausgeprägter Säure schmeckt mir ausgezeichnet, vor allem als Getränk. Was ich auch sehr mag: Mein Lieblingsverjus kommt in einer schönen Weinflasche, ihn zu trinken, schmeckt schon allein deshalb nicht nach Verzicht. Was die kulinarische Verwendung des sauren Traubensaftes betrifft, bin ich noch nicht weit fortgeschritten. Aber meine Neugierde wird mir bestimmt zu weiteren geschmacklichen Erlebnissen verhelfen.

Dieser Artikel ist in der ernährung heute 2|2021 „im Wandel“ erschienen.

Literaturverzeichnis

De Liz S: Woman on Fire – Alles über die fabelhaften Wechseljahre. Rowohlt Verlag, Hamburg (2020).

Lorey EM: Informationsportal zu einem seit dem Mittelalter beliebten Würzmittel aus dem Weinberg. www.elmar-lorey.de/Agrest/ (Zugriff: 14.05.2021).

Österreichisches Lebensmittelbuch: 6.1. Saft unreifer Weintrauben („Verjus). www.lebensmittelbuch.at (Zugriff: 12.05.2021).

Pour Nikfardjam MS: General and Polyphenolic Composition of Unripegrape Juice (Verjus/Verjuice) from Various Producers. Mitteilungen Klosterneuburg 58: 28–31 (2008).