© Tonodiaz

Mehr als nur auf der Zunge: Wie Geruch und Psyche unseren Süßgeschmack beeinflussen

Die Vorliebe für Süßes ist evolutionär tief in uns verankert. Sie signalisierte früher energiereiche und ungiftige Nahrungsquellen. Doch die Wahrnehmung von Süße ist weitaus komplexer als ein einfaches Signal auf der Zunge, obwohl wir nur einen einzigen Rezeptortyp für alle süßen Stoffe besitzen. Dieser Artikel erklärt die Mechanismen hinter dem Süßgeschmack.

Im Gegensatz zum Geschmackseindruck bitter, für den wir 25 verschiedene Rezeptoren haben, besitzen wir für alle süßen Substanzen nur einen einzigen Süßrezeptor, der aus zwei Untereinheiten besteht: TAS1R2 und TAS1R3. Dass wir nur einen Rezeptortyp für Süße ausgebildet haben, liegt wohl daran, dass süß normalerweise ungefährlich ist. Unterschiedliche süße Moleküle – wie Zuckerarten, süße Aminosäuren, Peptide und Proteine, Zuckeralkohole, Süßstoffe und selbst manche Schwermetallsalze – binden jedoch an unterschiedlichen Stellen am Süßrezeptor. Der Süßrezeptor hat mindestens sechs solcher Bindungsstellen, drei pro Untereinheit, die bei Aktivierung allesamt zu einer intrazellulären Reaktionskaskade und letztlich zur Geschmackswahrnehmung führen.

Kopfsache: Wie die Erwartung den Süßgeschmack formt

Wie intensiv wir süßen Geschmack wahrnehmen, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Etwa davon, was wir erwarten: In einer Studie erhielten Probanden vier süße Geschmackslösungen, zwei schwache und zwei starke. Bei je einer schwach und einer stark süßen wurde am Bildschirm die Erwartungshaltung einer stark süßen geschürt, analog wurde bei je einer schwach und einer stark süßen die Erwartungshaltung einer schwach süßen generiert. Wurde starke Süße erwartet, so beurteilten die Testpersonen eine schwach süße Lösung süßer, als wenn eine schwach süße Lösung erwartet wurde. Analog wurde die stark süße Lösung schwächer bewertet, wenn vorab die Erwartungshaltung einer schwachen Süße generiert wurde.

Geruch verstärkt Süßgeschmack – der Einfluss von Aromen

Gerüche, die üblicherweise mit süßem Geschmack gepaart auftreten, können eine Verstärkung des süßen Geschmackes bewirken. Das funktioniert selbst dann, wenn sie nur in geringer Konzentration beigegeben werden. Bekannt ist dies beispielsweise von Karamell-, Vanille-, Erdbeer-, Litschi- und Minzaroma.

Das Zusammenspiel von Süß & Bitter

Kombiniert man zwei unterschiedliche süße Substanzen, können diese einander verstärken. Deshalb werden künstliche Süßstoffe oft gemeinsam eingesetzt. Lange Zeit nahm man an, dass zwei Süßstoffe dann synergistisch wirken, wenn die beiden Substanzen an unterschiedlichen Rezeptorstellen binden. Anhand der Süßstoffe Saccharin und Cyclamat wurde allerdings gezeigt, dass der synergistische Mechanismus ein völlig anderer ist: Beide aktivieren abseits des Süßrezeptors nämlich auch Bitterrezeptoren, jedoch unterschiedliche. Cyclamat blockiert die Aktivierung von Saccharin an den Saccharin-spezifischen Bitterrezeptoren, und umgekehrt. Die Bitterkeit der Süßstoffe wird dadurch reduziert. Bitter maskiert Süße zu einem gewissen Grad. Durch Unterdrückung der Bitterkeit des jeweils anderen Süßstoffes kommt die Süße stärker durch, was den synergistischen Effekt der beiden Süßstoffe letztlich ausmacht.

Gene und Hormone wirken auf Süßempfinden

Wissenschaftliche Studien zum süßen Geschmack und Zuckerkonsum beschäftigten sich unter anderem auch mit dem Einfluss der Gene. In einer genomweiten Assoziationsstudie wurde eine Position am Chromosom 16 gefunden, wo in der Bevölkerung unterschiedliche Genvarianten existieren, die mit unterschiedlich starker Aufnahme von Zucker assoziiert ist. Der Effekt ist jedoch vernachlässigbar – wie sprechen von +/- 1 g/Tag, das durch diese Stelle am Genom erklärt wird.

Wissenswert

Genomweite Assoziationsstudien untersuchen das gesamte Erbgut, um herauszufinden, ob bestimmte Varianten in den Genen häufiger bei Individuen mit einem bestimmten Merkmal (z. B. einer Krankheit) auftreten. Damit soll eine bestimmte Ausprägung eines Gens erkannt werden, die gemeinsam mit diesem Merkmal auftritt.

Auch sensorische Sensitivität und Intensitätsbewertungen von süßen Stimuli sind nur wenig mit dem Konsum von Zucker oder Kohlenhydraten verbunden. Hedonische Bewertungen– also die subjektiven Einschätzungen des Gefallens – süßer Lösungen gehen eher mit höherem Konsum einher.

Hingegen gibt es spannende Erkenntnisse betreffend das weibliche Geschlecht. Eine Studie zeigte, dass Frauen in den Zyklustagen 20–28 süß weniger gern mögen als in den Tagen 5–12. Gemessen wurde dies anhand von süßen Geschmackslösungen in fünf Konzentrationen, welche die Probandinnen hinsichtlich der empfundenen Süßintensität auch als hedonisch bewerteten. Vorlieben für süßen Geschmack sind also (auch) zyklusabhängig.

Fazit

Die Wahrnehmung von „süß“ beschränkt sich nicht auf den Kontakt einer Substanz mit dem Süßrezeptor auf der Zunge. Wie die Forschung zeigt, handelt es sich um eine komplexe Erfahrung. So beeinflussen etwa die Erwartungshaltung, Gerüche, das Zusammenspiel mehrerer Süßungsmittel, sowie genetische und hormonelle Faktoren, wie intensiv man Süße empfindet. Dieses Wissen ist nicht nur für die Produktentwicklung relevant, sondern hilft auch, die eigene Wahrnehmung und Vorlieben besser zu verstehen.

Dieser Text ist eine gekürzte Variante des Artikels „Süß“ von Dr. Eva Derndorfer in der ernährung heute 3-2019 „Gesprächsbasis Evidenz oder Emotion?“

Literaturverzeichnis

Bedwell JS, et al: The Sweet Taste Test: Relationships with Anhedonia Subtypes, Personality Traits, and Menstrual Cycle Phases. Journal of Psychopathology and Behavioral Assessment, 41 (2): 235–248 (2019).

Considine RV et al.: 311-LB: Gustatory Cortex Response to Sweet Taste Is Positively Correlated with Adiposity. Diabetes 2019: Jun: 68 (Supplement 1).

Derndorfer E, Gruber M: Farben essen. Maudrich Verlag (2015).

Dürrschmid K: Reduktionsstrategien für Fett, Zucker und Salz. Teil 3 – Multimodale Wahrnehmungen und crossmodale Interaktionen. DLG Expertenwissen 4 (2018).

Han P, Bagenna B, Fu M: The Sweet Taste Signalling Pathways in the Oral Cavity and the Gastrointestinal Tract Affect Human Appetite and Food Intake: A Review. International Journal of Food Sciences and Nutrition, 70 (2): 125–135 (2019).

Hwang LD et al.: New Insight into Human Sweet Taste: A Genome-wide Association Study of the Perception and Intake of Sweet Substances. The American Journal of Clinical Nutrition, 109 (6): 1724–1737 (2019).

König I, Monti C, Prader I: Alle lieben flache Kuchen. Brandstätter Verlag (2018).

Munger SD: A Bitter Tale of Sweet Synergy. Cell Chemical Biology, 24 (10), 1191–1192 (2017).

Slater N: Obst. DuMont Verlag (2013).

Tan SY, Tucker R: Sweet Taste as a Predictor of Dietary Intake: A Systematic Review. Nutrients, 11 (1), 94 (2019).

Wilton M, et al: Intensity Expectation Modifies Gustatory Evoked Potentials to Sweet Taste: Evidence of Bidirectional Assimilation in Early Perceptual Processing. Psychophysiology, 56 (3), e13299 (2019).