15.10.2020 von Dr. Carina Kern

Wenn gesund essen krankhaft wird

Gesund zu essen, ist für viele ein großes Thema. Doch wird dieser Wunsch zum Lebensinhalt, sprechen Fachleute von Orthorexie. Wie bei allen Essstörungen handelt es sich auch hierbei um ein auffälliges Essverhalten, das mit negativen gesundheitlichen Folgen verbunden sein kann. 

Die Bezeichnung Orthorexia nervosa kommt aus dem Griechischen, wobei „ortho" für „richtig" und „orexis" für „Appetit" steht. Sie wurde erstmals im Jahr 1997 vom US-amerikanischen Mediziner Steven Bratman beschrieben. Die Betroffenen beschäftigen sich übermäßig stark mit gesunder Ernährung, entwickeln ihre eigenen Ernährungsvorschriften und schränken ihre Lebensmittelauswahl dadurch stark ein. Lange wurde die Gefahr hinter der Orthorexie unterschätzt, da die Grenzen zwischen bewusster und zwanghaft gesunder Ernährung fließend sind.

Im Namen der Gesundheit

Gründe, sich ausgewogen ernähren zu wollen, gibt es viele. Laut Motivanalysen stehen vor allem die Gesundheit, guter Geschmack sowie das Wohlfühlgewicht im Vordergrund. Doch kann die Auseinandersetzung mit einer gesunden Ernährungsweise auch pathologisch werden. Aus Umfragen geht hervor, dass sich der Großteil der krankhaften Gesundesser erhofft, durch die überregulierte Ernährungsweise zu einem „besseren“ Menschen zu werden oder Gewicht zu verlieren. Den Ergebnissen zufolge geht orthorektisches Essverhalten häufig mit ein- oder mehrmaligen Abnehmversuchen einher. Noch nicht wirklich erforscht, aber durchaus möglich ist, dass sich das „richtige Essen“ vom Gesundheitsfokus ausgehend zunehmend auch auf ökologische Aspekte ausweitet.
Anders als bei Bulimie und Anorexie, steht bei Orthorexie nicht die Menge, sondern die Qualität von Lebensmitteln im Vordergrund. Es werden ausschließlich Lebensmittel verzehrt, die subjektiv als „gesund“ bewertet werden. Am Speiseplan stehen dadurch oft nur mehr wenige Lebensmittelgruppen, etwa frisches Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte. Alle Lebensmittel, die persönlich als ungesund eingestuft werden, kommen nicht auf den Teller. Dazu zählen häufig tierische und verarbeitete Produkte sowie zucker- und fettreiche Lebensmittel oder auch Weizenprodukte. Studien deuten darauf hin, dass vor allem junge Frauen und Männer mit akademischer Ausbildung, Sportler sowie Personen aus Gesundheitsberufen (Diätassistenten, Ernährungswissenschaftler) ein höheres Risiko haben, Orthorexie zu entwickeln.

Zwang statt Genuss

Typisch für Orthorexie ist, dass die Betroffenen sich gedanklich pausenlos mit gesunder Ernährung beschäftigen und Mahlzeiten bereits Tage im Voraus planen. Mit der Zeit nehmen Einkäufe, Organisation und Zubereitung von Mahlzeiten einen immer wichtigeren Stellenwert ein. Nährwerte und Inhaltstoffe von Lebensmitteln werden intensiv recherchiert und verglichen, Essensvorlieben ignoriert und Lieblingsspeisen verboten. Das Einhalten der Regeln vermittelt das Gefühl von Kontrolle und Sicherheit. Wird vom Speiseplan abgewichen, löst das bei den Betroffenen schnell Unruhe aus. Der Verzehr von „ungesunden“ Lebensmitteln sogar starke Schuldgefühle und Gewissensbisse.

Nach Bratman geht über die Zeit „jede Leichtigkeit des Seins beim Essen“ verloren und durch die „Vernarrtheit“ in die zwanghafte Selbstkontrolle kann kein Genuss mehr empfunden werden. Psychologen zufolge ist das auch stark mit dem Wunsch, den heutigen Ansprüchen und Schönheitsideale gerecht zu werden, verbunden. Bestätigung finden die Betroffenen bei Gleichgesinnten, die sich besonders in den sozialen Medien gegenseitig motivieren. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhalten gibt es selten, da die ideologische Komponente der Orthorexie stark dominiert.

Häufig zu spät und mit massiven Folgen erkannt

Durch die fehlende Reflexion vom vermeintlich positiven „gesund essen“ bleibt Orthorexie meist über lange Zeit unerkannt. Viele suchen erst dann ärztliche Hilfe, wenn anderweitig Begleiterscheinungen wie Hautprobleme, Schlaflosigkeit, Erschöpfungszustände, Untergewicht, Konzentrationsschwierigkeiten oder Mangelerscheinungen auftreten. Häufig ziehen sich die Betroffenen auch aus ihrem sozialen Umfeld zurück, denn auswärts bei Freunden, Familie oder in Restaurants zu essen, ist in Extremfällen kaum mehr möglich. Die Gefahr in Magersucht abzurutschen ist ebenfalls erhöht.

Kein eigenständiges Krankheitsbild

Laut Definition liegt eine psychische Störung dann vor, wenn sie das Alltagsleben der Betroffenen dominiert. „Krankhaftes Gesundessen“ wird in der Literatur durchaus kontrovers diskutiert. Noch gilt es zu klären, ob es sich um einen extremen Lebensstiltrend, eine Begleiterscheinung einer bereits bestehenden Essstörung oder um eine Zwangsstörung handelt. Dabei steht die Forschung noch am Anfang. Bislang ist Orthorexie in keinem Klassifikationssystem als Erkrankung oder Störung angesehen. Sie zeigt jedoch starke Ähnlichkeiten zur Anorexie.

Bin ich betroffen?

Momentan gibt es kein einheitliches Messinstrument, um Orthorexie verlässlich zu diagnostizieren. Ob ein Risiko vorliegt, lässt sich jedoch mittels Bratman-Test abschätzen. Der Selbsttest wurde ursprünglich von Steve Bratman gemeinsam mit dem Arzt David Knight im Jahr 2000 entwickelt und ins Deutsche übersetzt. Bis heute wird er von Fachpersonen in der Praxis verwendet. Je mehr der Fragen mit „Ja“ beantwortet werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Orthorexie vorliegt. Jede zutreffende Antwort erhält einen Punkt:

1.    Verbringen Sie mehr als drei Stunden am Tag damit, über ihre Ernährung nachzudenken?
2.    Planen Sie heute schon, was Sie morgen essen werden?
3.    Ist Ihnen der gesundheitliche Wert der Speisen wichtiger als das Essvergnügen?
4.    Finden Sie, dass Ihre Lebensqualität in gleichem Maße abgenommen hat wie sich die Qualität ihrer Nahrungsmittel gesteigert hat?
5.    Werden Sie immer strenger mit sich selbst?
6.    Verzichten Sie auf frühere Genüsse, um sich „richtig“ zu ernähren?
7.    Steigert es Ihr Selbstwertgefühl, wenn Sie sich gesund ernähren? Schauen Sie auf andere herab, die sich nicht entsprechend ernähren?
8.    Fühlen Sie sich schuldig oder hassen Sie sich selbst, wenn Sie etwas essen, das Sie zwar mögen, was aber nicht zu Ihren Ernährungsregeln passt?
9.    Sind Sie durch Ihre Diät sozial isoliert?
10.    Fühlen Sie sich im Einklang mit sich selbst bzw. glücklich und zufrieden über Ihre Selbstkontrolle, wenn Sie sich gesund ernähren?

0-2 Punkte: Normales Essverhalten. Essen wird ohne schlechtem Gewissen und mit Genuss verzehrt.
3-5 Punkte: Hang zur Orthorexie. Vorsicht ist geboten.
6-8 Punkte: Ernsthafte Probleme mit dem Essen. Ernährung nimmt bereits einen zu großen Teil des Alltags ein.
>9 Punkte: Orthorexie liegt vor. Ärztliche Hilfe sollte aufgesucht werden.

Fazit

Wer an Orthorexie leidet, ernährt sich zwanghaft gesund. Das einseitige und eingeschränkte Essen kann zu starken Mangelerscheinungen und körperlichen Beeinträchtigungen führen. Ob es sich um eine eigenständige Erkrankung handelt, ist zwar noch nicht geklärt, die rigiden Verbote und die damit oft zunehmende soziale Isolierung sprechen jedoch für eine psychische Störung.

Literatur

Bratman S: Orthorexia nervosa: Overcoming the Obsession with Healthful Eating. 1. Auflage, Broadway Books, New York (2000).
Depa J, Barrada JR, Roncero M: Are the motives for food choices different in orthorexia  nervosa and healthy orthorexia? Nutrients, 11(3), 697 (2019).
Kinzl JF, Hauer K, Traweger C, Kiefer I: Orthorexia nervosa: Eine häufige Essstörung bei Diätassistentinnen? In: Ernährungs-Umschau 52: 436-439 (2005).
Klotter C, Depa J, Humme S: Gesund, gesünder, Orthorexia nervosa: Modekrankheit oder Störungsbild? Eine wissenschaftliche Diskussion. 1. Auflage, Springer-Verlag, Berlin (2015).
Meule A: Diagnostik von Essverhalten. 1. Auflage, Hogrefe Verlag, Göttingen (2020).
Missbach B, Hinterbuchinger B, Dreiseitl V, Zellhofer S, Kurz C, König J: When eating right, is measured wrong! A validation and critical examination of the ORTO-15 questionnaire in German. PloS ONE, 10(8), e0135772 (2015).
Netzwerk Essstörungen: Was sind Essstörungen? www.netzwerk-essstoerungen.at (Zugriff: 29.09.2020).
Österreichische Gesellschaft für Ernährung (ÖGE): Essstörungen. www.oege.at (Zugriff: 29.09.2020).
Rudolph S, Göring A, Jetzke M, Großarth D, Rudolph H. Zur Prävalenz von orthorektischem Ernährungsverhalten bei sportlich aktiven Studierenden. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, 68: 10-13 (2017).

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